Finns Welt - 01 - Finn released
Tor zielen konnte?«
Lukas schürzt die Lippen, als wolle er sagen: Respekt, das war echt ein gutes Argument. Er macht einen Schritt Richtung Gleisbett. Zwei Schienenpaare führen hier entlang. Zwischen Gestrüpp und Bahnschotter sind knapp zwei Meter Platz. Lukas fährt mit der Hand durch den Blütenschopf eines Unkrauts.
»Finger weg!«, sage ich und er lässt los. »Das ist Bärenklau. An dem Strunk verbrennst du dir die Haut. Zumindest, solange die Sonne draufscheint.«
Lukas zeigt auf mich, schaut aber Flo an. »Wann hat dem eigentlich ein verrückter Professor den Kopf aufgeschnitten und alles Wissen der Welt reingekippt?«
»Und vor allem: Warum hat er ihn nur halb zugenäht, sodass alles immer von alleine rausfällt?«, setzt Flo noch einen drauf und sie lachen.
»Hey!«, sage ich. »Das ist unfair! Ich warne euch und als Dank verbündet ihr euch gegen mich!«
Wir gehen weiter. Ich weiß auch nicht mehr als andere, ich vergesse eben nur weniger. Was kann ich denn dafür, so ticke ich nun mal. Dafür hat Lukas schon eine Freundin.
»Das ist cool hier«, sagt Lukas, »das erinnert mich an diesen uralten Film, wo die Jungs an den Gleisen eine Leiche finden. Kennt ihr den? Stand by Me heißt der, glaube ich. Das ist cool.« Ich kann seine gute Laune verstehen.
»Ja«, sage ich, »Gleise sind cool. Die geben viele Punkte, oder Flo? Die machen als Hindernis echt was her, aber gleichzeitig sind sie pupsleicht.«
Ich stelle meinen Rucksack ab, um die Flasche Wasser rauszuholen, blicke dabei nach links und erstarre, als ich ungefähr dreihundert Meter entfernt einen Mann auf dem Boden sehe. Er kriecht auf Knien an die Schienen heran. Es sieht aus, als wolle er seinen Hals auf den heißen Stahl legen und abwarten, bis ein Zug kommt und ihn köpft.
»Was hast … ach du Scheiße!« Lukas sieht es jetzt auch. Flo steht schweigend da, den Mund weit offen. Dann sagt er: »Das ist außerhalb unseres Korridors.« Der Satz schwebt vor uns durch die Luft, treibt in den giftigen Bärenklau und zerstäubt in viele kleine Teile.
»Das hast du jetzt nicht ernsthaft gesagt, oder?«, frage ich ungläubig.
»Ja, was denn?«, entgegnet Flo und seine Stimme zittert. »Du hast doch gesagt, dass wir uns an das Regelwerk zu halten haben. Der Kiosk war bloß zehn Meter nach links. Sechseinhalb, wenn man …«
»Der Typ will sich umbringen!« Ich blitze Flo wütend an. Ich denke daran, wie ich mich fühlte, als meine Oma starb. An die Kälte, die sich in mir ausbreitet, wenn ich daran erinnert werde, dass wir alle irgendwann nicht mehr da sind. Wir können jeden Tag so viel machen. Das hat mein Opa immer gesagt, in seinem Haus am Meer. Finn, hat er gesagt, wir könnten hier und jetzt nach Afrika fahren. Wir machen es vielleicht nicht, aber wir könnten. Wir haben tausend Möglichkeiten. Nur der Tod, der beendet sie alle.
»Lass«, meint Lukas, »Flo hat doch nur Angst.«
»Und du?«, frage ich, warte seine Antwort aber nicht ab, sondern gehe entschlossen in Richtung des Selbstmörders. Mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb. Zum einen, weil auch ich ein bisschen Schiss habe. Zum anderen, weil es mich aufregt, dass er sein Leben selbst beenden will, während andere gerne noch weiterleben würden, um ihre Möglichkeiten zu nutzen. Und genau das will ich ihm sagen. Der Schotter lässt mich immer wieder straucheln und ich flehe, dass jetzt kein Zug um die Ecke geschossen kommt. Endlich bin ich nah genug an ihm dran und will gerade beginnen, ihm etwas zuzurufen, da macht es klick!
Es ist das Geräusch eines Auslösers. Der Typ korrigiert die Position, in der er vor den Schienen hockt. Er hat eine große Kamera in der Hand. Er will sich gar nicht umbringen. Er fotografiert. Erschrocken zuckt er zusammen. »Hast du mich erschreckt, Junge!«
»Was machen Sie da?«, frage ich und spüre, wie sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigt.
Er zeigt auf einen braunen Punkt im Schotter, die Brust immer noch fast am Boden und den Hintern in die Höhe gerichtet. »Siehst du ihn?«
Ich beuge mich runter und kneife die Augen zusammen. Zwischen den scharfen Steinen sitzt ein großer Käfer. Der Typ zeigt auf seine Kamera. »Digitale Spiegelreflex. Besonders guter Zoom für Nahaufnahmen.«
Lukas und Flo haben den Tatort auch endlich erreicht. Der Typ hebt seine rechte Hand und sagt: »Psssssst!«
»Was ist denn los?«, fragt Flo leise.
»Ein Maikäfer«, erklärt der Mann. »Ihr denkt jetzt wahrscheinlich: Was soll daran besonders
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