Finns Welt - 01 - Finn released
scharfen Steine schneiden mir in die Handoberfläche.
»Zug!«, schreie ich und sehe halb vor und halb über mir, wie Lukas’ durchtrainierte Beinmuskeln sich anspannen und sein Fuß den Schotter nach hinten treibt wie eine Lawine. In zwei Sekunden ist er bei Flo und reißt ihn vom Gleis. Ich sehe, wie die beiden ins Gebüsch purzeln, als der spitze weiße Intercityexpress auch schon vorbeirauscht.
Ich kauere mich neben den Schotter und verstecke meinen Kopf unter den Armen. Der Luftdruck des rasenden Zuges boxt mir auf den Rücken wie eine Horde Hooligans. Die Horde ist fünfzehn Waggons lang und es fühlt sich an, als höre es niemals auf. Ich hoffe, dass mich der Luftsog hinter dem letzten Wagen nicht vom Boden hochschleudert und auf dem Schotter zerschmettert. Ich hoffe das immer noch, als Lukas und Flo schon längst hinter mir stehen.
»Er ist weg«, sagen sie und ich warte noch mal zehn Sekunden, bis ich wieder in der Welt auftauche. Meine Hand pocht, die Schrammen bluten, aber Lukas und Flo sehen noch übler aus. Im Schlamm gewälzt, von Garagen gesprungen, fast vom Zug erfasst worden – ich starre die beiden nachdenklich an.
»Willst du aufhören und die Quest beenden?«, frage ich Flo, der sich an Lukas’ Hemd klammert, ohne es überhaupt zu merken. Lukas’ Meinung zu dem Thema kann ich nicht einschätzen. Was ich denken soll, weiß ich auch nicht. Flo spannt uns einen Moment auf die Folter. Eben wollte er noch gehen. Jetzt sagt er: »Und dann? Dann wäre das eben ganz umsonst gewesen!«
Ich nicke. Flo lässt Lukas los. »Doch kein so pupsleichtes Hindernis, oder?«, sagt er und lacht dann. Aber er lacht so, wie Leute lachen, die einen riesigen Schreck erst mal runtergeschluckt haben und erst morgen damit anfangen wollen, ihn zu verdauen.
DER SUPERMARKT
Als wolle die Landschaft uns erst mal schonen, führt unser Weg zwei Kilometer lang durch Brachland. Hundert Meter rechts von uns steht eine schmutzig-weiße Ruine. Unsere Füße laufen über alten Asphalt, den die Natur längst wieder zurückerobert hat. Grasbüschel haben ihn durchbrochen, kleine Bäume und zwei Meter hohe Disteln. Die letzten zwanzig Minuten hat keiner was gesagt.
»So würde es überall aussehen, wenn es keine Menschen mehr gäbe«, sagt Flo. »Wie bei Fallout 3.«
»Es gibt keinen Satz, der nicht mit einem Computerspielvergleich endet«, seufzt Lukas.
»Achtung!!!«, brülle ich wie aus heiterem Himmel und werfe mich mit voller Wucht auf den harten, staubigen Boden. Lukas duckt sich instinktiv und Flo rollt sich auf der Stelle wie eine Schnecke am Boden zusammen. Ich lache mich schlapp. Es ist unglaublich, wie gut das immer funktioniert.
Flo rappelt sich auf und Lukas winkt ab, als hätte er gerade auf dem Platz das Tor verfehlt. »Mann! Schon wieder!«
Ich wiehere, die Lachtränen auf den Wangen.
»Guckt mal, da«, sagt Flo, der noch auf dem Boden liegt und in eine bestimmte Richtung zeigt. Er sieht wirklich etwas. Am Horizont. Ein Aldi-Markt. Von hinten. Genau in gerader Linie auf unserem Weg.
»Oh«, sagt Lukas, »der ist breiter als sieben Meter.«
»Das ist er wohl«, sage ich.
Eine Viertelstunde später stehen wir auf der Rückseite des Gebäudes. Hier gibt es keine Menschen und keine parkenden Autos. Nur einen Zaun, den wir leicht überklettert haben, und eine große graue Doppeltür aus Stahl, die wahrscheinlich ins Lager führt.
»Wir haben ein Problem«, stellt Flo fest und schaut ins Regelbuch, als könne er dort eine Antwort finden. »So ein Aldi hat immer nur zwei Seiten mit Eingängen. Den für die Kunden und diesen hier.«
»… und sie liegen sich nicht gegenüber«, sage ich.
»Genau. Selbst wenn wir von vorne gekommen und durch den Kundeneingang rein wären, hätten wir irgendwann vor der Kühltheke gestanden.«
»Und wenn wir diese Tür aufbekommen und durchs Lager in den Laden gehen würden …«, sagt Lukas.
»… stünden wir irgendwann vorm Brot«, ergänze ich.
»Egal, wie wir reingehen, wir laufen immer vor eine Wand«, stellt Flo fest. Er blättert im Regelbuch.
»Da brauchst du nicht zu blättern. Es gibt keinen Ausweg. Wir müssen übers Dach,« sagt Lukas.
»Bist du verrückt? Es ist halb zwölf vormittags, und das an einem Samstag«, sagt Flo. »Hunderte Kunden packen gerade die Tüten in ihren Kofferraum und wenn die uns auf dem Dach entdecken, dann …«
»Ein Hindernis ist ein Hindernis«, unterbricht Lukas ihn. »Ich sag ja auch nicht eines Tages: Nö, Trainer, gegen
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