Finns Welt - 01 - Finn released
sein, wir haben doch schließlich Mai! Aber Maikäfer findet man nicht jedes Jahr, sondern eher nur alle vier Jahre.«
»Weil keine neuen nachkommen, solange die aus der aktuellen Generation noch nicht voll geschlechtsreif sind«, sage ich und bereue es in dem Moment, wo ich es ausspreche, denn Lukas und Flo schauen mich an wie Harry Potter und Ron Weasley ihre Freundin Hermine, wenn die mal wieder superschlaue Kommentare macht. Eine elende Besserwisserin.
»Die Zykluszeit, genau«, sagt der Mann. Er macht noch ein paar Fotos, dann steht er auf. Der Käfer fliegt davon. Seine Flügel lärmen, als würde man Skatkarten unter dem Daumen durchrasseln lassen.
»Wir dachten, Sie wollen sich vom Zug köpfen lassen«, sagt Lukas.
»Gott bewahre«, ruft der Mann aus, »ich liebe das Leben!«
Ich strahle ihn an und hebe die Hand, damit er einschlägt. Er weiß zwar nicht, warum ich mich so freue, aber er klatscht mich trotzdem ab.
»Aber es ist doch gefährlich, an den Gleisen herumzukriechen«, sagt Flo.
Der Mann lacht. Er hat eine Glatze, trägt eine randlose Brille und hat sich den Bart so rasiert, dass zwei schmale Bahnen über die Wangen zum Kinn wandern und sich dort zu einem buschigen Ziegenbart aufbauschen. »Ach, Jungs«, sagt er, »es ist schon amüsant, was wir Deutschen alles für gefährlich halten.« Flo runzelt die Stirn. »Hier kommt alle zweiundzwanzig Minuten ein Zug«, erklärt der Mann. »Mein Kopf ist so nah am Gleis, dass ich ihn schon höre, wenn er noch zwei Kilometer entfernt ist. Ich habe genügend Platz, zur Seite zu gehen. Wenn ich achtsam bin, kann mir gar nichts passieren.«
Flo und Lukas sehen ihn an, als habe er zwar recht, aber als dürfe ein Erwachsener so etwas nicht sagen. »Wart ihr schon mal in Israel, Jungs?«, fragt er und wir schütteln den Kopf. »Da kann jeden Tag in jedem Café eine Bombe hochgehen. Und trotzdem sitzen die Leute immer noch da und trinken Cappuccino.«
Da wir ihm noch immer wortlos gegenüberstehen, schenkt er uns ein kurzes Lächeln und sagt dann: »Wenn wir aufmerksam sind für die Welt um uns herum, dann brauchen wir keine Regeln.« Er packt seine Kamera ein. »Also, Jungs, ich zieh dann mal weiter.« Und schon verschwindet er im Gestrüpp. Sprachlos starre ich ihm nach.
»Wir müssen wieder in unseren Korridor«, sage ich und gehe in Richtung des Punktes, an dem wir aus dem Gebüsch gekommen sind. Lukas folgt mir langsam. Flo bleibt stehen. »Ach ja«, sagt er, »müssen wir das? Wo wir doch keine Regeln brauchen, wie dein Held eben gesagt hat.«
»Wieso denn mein Held?«
Flo bleibt trotzig neben dem Gleis stehen. »Du hast den Typen doch angestrahlt, als wolltest du gleich mit ihm ausgehen.«
»Weil er recht hat«, sage ich.
»Okay, dann brauchen wir also keine Regeln und keinen Korridor mehr. Dann gehe ich jetzt zum Kiosk zurück und hole mir eine Stange Knoppers.«
»Jetzt stell dich nicht so an«, sagt Lukas.
»Genau, weil dir Regeln ja auch völlig egal sind«, schnappt Flo giftig. »Eure Schiedsrichter-Regelbücher sind doch so dick wie Island.«
»Was ist das denn für ein bescheuerter Vergleich?«, fragt Lukas. »Dick wie Island? Ein Land ist höchstens breit, aber doch nicht dick.«
»Was ist denn überhaupt los?«, frage ich Flo, den ich so gar nicht kenne.
»Ach, dieses dumme Gequatsche von wegen Aufmerksamkeit«, sagt er und zeigt in den Busch. »So Typen wie du oder der Fotograf eben, immer wisst ihr alles. Das ist Vogelmiere. Das ist Bärenklau. Das ist der Maikäfer mit seinem Zyklus. Und ich? Ich bin der Depp, der nur vor seinem Rechner sitzt. Als wenn ich überhaupt nicht lebenstauglich wäre.«
»Das hat doch keiner behauptet«, versuche ich zu beschwichtigen, aber irgendwas bringt Flo gewaltig auf die Palme.
»Was kann ich denn dafür«, brüllt er nun, »dass ich keinen Vater hatte wie du? Einen, der absichtlich kein Handy benutzt und seinem Finn im Wald jeden Baum erklärt? Oder wenigstens einen, der mich zum Profisportler trimmt. Scheiße!«
Lukas und ich wissen nicht, was wir sagen sollen. Und wir hören erst jetzt, dass in ziemlich zügigem Tempo ein Zug heranrauscht. Flo bemerkt es offensichtlich nicht, denn er spuckt auf den Boden und sagt: »Ich gehe jetzt hier rüber und ob ich auf der anderen Seite wieder in den Korridor zurückkehre, überlege ich mir dann noch!« Er betritt die Schiene und Lukas und ich rennen uns gegenseitig über den Haufen, weil wir gleichzeitig losstürzen. Ich falle in den Schotter. Die
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