Finster
der dem Haus der Tequila-Frau gegenüberliegenden Seite folgte ich der Franklin Street weiter nach Norden. Langsam.
Eine Zeit lang konnte ich das Küchenfenster sehen. Es war dunkel. Aber auf der Veranda brannte Licht. Und auch durch die Vorhänge vor dem großen Fenster an der Vorderseite fiel ein gedämpfter Schein.
Die Tequila-Frau - oder wer immer sich sonst noch im Haus befand - war offensichtlich noch nicht zu Bett gegangen.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr: 23:48.
Sollte ich mich verstecken und hier auf Casey warten, statt zu Dandi Donuts zu gehen?
Es könnte Stunden dauern.
Und wenn sie sich jetzt gerade in dem Haus dort aufhält?
Ich vergewisserte mich, dass kein Verkehr kam und überquerte die Franklin Street.
Mein Mund war trocken. Mein Herz klopfte. Der Schmerz pulsierte erneut in meinem Kopf.
Es ist unmöglich, dass dies hier wirklich geschieht, dachte ich.
Klar, wieso nicht?
Ich stieg die Stufen zur Veranda hinauf.
Ich habe den Verstand verloren. Der Schlag auf den Kopf muss mich verwirrt haben.
Ich stand auf der Fußmatte und klingelte. Aus dem Haus ertönte ein Läuten. Ich verspürte das heftige Bedürfnis, wegzurennen.
Was soll ich sagen?
Ich hatte keine Ahnung.
Hinter dem Fliegengitter wurde die Haustür ein paar Zentimeter weit geöffnet, und ein vertikaler Lichtstreifen tauchte auf. Ungefähr auf der Höhe meines Halses spannte sich die Sicherheitskette. Dann zeigte sich ein Gesicht im Spalt.
Das Gesicht der Tequila-Frau.
Es war hübscher, als ich es in Erinnerung hatte. Und jünger.
Ihre großen blauen Augen sahen mich an.
»Ja?«, fragte sie. Sie klang weder ängstlich noch ärgerlich, nur ein wenig verdutzt.
»Ich heiße Ed«, sagte ich. »Tut mir wirklich leid, Sie zu stören, aber ich habe ein Problem und wollte fragen, ob ich Ihr Telefon benutzen könnte.«
Sie kniff die Augen zusammen, neigte den Kopf zur Seite und schien über meine Bitte nachzudenken.
»Ich weiß, dass es fast Mitternacht ist«, sagte ich, »aber es handelt sich um einen Notfall.«
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Ed«, wiederholte ich.
»Ed Logan?«
Ein erstauntes Starren war meine einzige Reaktion.
Sie schloss kurz die Tür und schwang sie anschließend
weit auf. Dann stieß sie gegen die Fliegengittertür. »Komm rein, Ed«, sagte sie.
58
Sie kennt mich? Unmöglich.
Als ich ins Haus kam, trat sie in die Diele zurück. Sie war barfuß, trug eine hellbraune Kordhose und eine langärmlige weiße Bluse. Die Bluse hing über den Hosenbund, die oberen Knöpfe standen offen.
Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, streckte sie mir die Hand entgegen. »Ich bin Lois«, sagte sie.
»Hallo, Lois.« Ich nahm ihre Hand. Sie war warm und weich. Ich konnte kaum glauben, dass ich gerade die Hand der Frau schüttelte, die ich heimlich beobachtet hatte. Und sie kannte meinen Namen!
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Ich glaub, wir haben eine gemeinsame Freundin«, sagte sie. »Ihr geht’s doch gut, oder?«
»Soweit ich weiß, schon. Ich hab sie heut Nacht noch nicht gesehen. Ich bin nur hergekommen, weil bei dir Licht brannte und ich wirklich dringend telefonieren muss.«
»Das Telefon steht da drüben.« Sie drehte sich um.
Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Außer uns war niemand dort. Der Fernseher war ausgeschaltet. Musik lief nicht. In der Stille konnte ich unsere Schritte auf dem Teppich hören. Der Schoß von Lois’ Bluse bedeckte ihren Hintern.
Sie ging zu einem Beistelltisch am anderen Ende des Sofas, nahm ein schnurloses Telefon und reichte es mir. »Bitte schön.«
»Danke.«
Als ich die Nummer eintippte, schlenderte Lois aus dem Zimmer, vermutlich, damit ich mich nicht gestört fühlte. Das kam mir sehr vertrauensvoll vor.
Auf dem Beistelltisch lag mit dem Umschlag nach oben ein aufgeschlagenes Buch. Sie musste gerade darin gelesen haben, als ich klingelte. Licht im August von Faulkner.
Nach ein paar Freizeichen startete mein Anrufbeantworter. Meine eigene Stimme sagte: »Dies ist der Anschluss von Ed Logan. Ich bin nicht zu Hause. Hinterlassen Sie bitte nach dem Signalton Ihren Namen und Ihre Nummer.« Und schon piepste es.
»Eileen?«, fragte ich. »Bist du da? Ich bin’s, Ed. Wenn du da bist, geh bitte ran.« Ich wartete ein paar Sekunden, dann sagte ich: »Eileen? Bist du da? Es ist wichtig. Ich muss mit dir sprechen. Bitte , geh ans Telefon, wenn du da bist.« Ich wartete noch eine Weile, ehe ich das Telefon zurück in die Station
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