Finster
letzte Nacht durch die Straßen
streunen. Auf keinen Fall. Nie wieder. Ich muss den Verstand verloren haben. Glück gehabt, dass ich mit dem Leben davongekommen bin.
Auf dem Weg von meiner Wohnung zum Campus, der nur ein paar Straßen weiter lag, hielt ich Ausschau nach Randy und seinem Toyota Pick-up.
Würde er tagsüber nach mir suchen?
Könnte sein.
Und nach Eileen vielleicht auch.
Er hatte uns zwar viel weiter im Norden der Stadt gesehen, aber man musste kein Genie sein, um sich zusammenzureimen, dass wir Studenten waren.
Ich muss Eileen warnen.
17
Ich blieb bis drei Uhr auf dem Campus. Zwischen den Seminaren lief ich draußen herum, saß auf einer Bank, genehmigte mir im Studentenhaus einen Burger und eine Pepsi und verbrachte eine Weile lesend in der Bibliothek. Ich hielt die Augen nach Eileen offen, konnte sie aber nirgendwo entdecken.
Nach meinem letzten Seminar überlegte ich, ob ich zum Wohnheim gehen sollte, doch es lag nicht auf meinem Heimweg, und ich wusste nicht, ob sie dort war. Außerdem war ich noch nicht in der Lage gewesen, mir zurechtzulegen, was ich Eileen erzählen sollte, und zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Also ging ich nach Hause und legte mich ins Bett.
Als ich aufwachte, war es dunkel im Zimmer. Ich wusste nicht, was los war. Auf der Uhr war es Viertel nach acht. Da morgens zu dieser Zeit die Sonne schon aufgegangen war, musste es Abend sein. Nun fiel mir ein, dass ich mich zu einem Nickerchen hingelegt hatte. Und auch die anderen Erinnerungen kehrten zurück.
Ich musste etwas wegen Eileen unternehmen.
Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich in die Küche und schob das Stück Pizza, das vom vorigen Abend übrig geblieben war, in die Mikrowelle.
Ich warf einen Blick auf meinen Anrufbeantworter. Keine neuen Nachrichten. Das war keine Überraschung. Eileen wollte nicht, dass ich dachte, sie dränge sich mir auf, deshalb würde sie wohl den nächsten Schritt mir überlassen.
Während ich die Pizza aß, las ich in Wordsworths »Präludium« , doch ich konnte mich nicht besonders gut konzentrieren. Vielleicht wäre es besser gelaufen, wenn das Gedicht ein echter Hammer gewesen wäre. Aber es war bestenfalls still, liebenswürdig und nostalgisch, und schlimmstenfalls langweilig.
Meine Gedanken befanden sich größtenteils woanders, während meine Augen über die Zeilen glitten. Kurz bevor ich aufgeben wollte, erregte eine Stelle meine Aufmerksamkeit:
… Manchmal wuchs ein
Verlangen in mir bei solch nächt’gem Jagdzug,
Das stärker war als beßres Wissen; dann
Holt’ ich den Vogel mir zur Beute, den
Die Mühe eines andern sich erjagt.
Doch wenn die Tat getan war, hört’ ich, wie
Ein leises Atmen durch die Hügel zog
Und mich verfolgte: Töne, kaum zu hören,
Und Schritte, weich wie über Rasenpolster.
Ein paar Tage zuvor hätte ich keinen weiteren Gedanken an diese Verse verschwendet, doch nun schien es, als wären sie über mich geschrieben worden - ein Nachtschwärmer, dessen Sehnsucht den gesunden Menschenverstand überwältigt. »Der Vogel« könnte das geheimnisvolle Mädchen sein. Und die letzten vier Zeilen wiesen auf eine Gefahr hin, die »mich verfolgte«. Jemand wie Randy.
Ich las die Stelle wieder und wieder, spürte ihre tiefe geheimnisvolle Magie und war beeindruckt von dem seltsamen Zusammentreffen der Umstände, das dazu geführt hatte, mich ausgerechnet heute Abend diese Entdeckung machen zu lassen.
Nachdem ich die Passage mit einem gelben Marker angestrichen hatte, las ich weiter. Ungefähr zehn Sekunden lang hatte Wordsworth meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Dann begann er, von Vogelnestern zu schwärmen, und ich dachte darüber nach, wie ich mit Eileen Kontakt aufnehmen sollte.
Sollte ich sie anrufen? Höchstwahrscheinlich war sie nicht in ihrem Zimmer; sie lernte größtenteils im Studentenhaus oder in der Bibliothek. Selbst wenn ich sie telefonisch erreichen könnte, wäre das wohl keine gute Idee. Es
könnte aussehen, als wollte ich ihr aus dem Weg gehen. Es war besser, sie zu suchen und von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu reden.
Ich legte Wordsworth und Fitzgerald ( Der große Gatsby, für mein Seminar über amerikanische Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts) in meine Büchertasche, hängte sie mir über die Schulter und verließ meine Wohnung.
Im Erdgeschoss stand die Tür der Fishers offen. Ihr Fernseher lief. Ich blickte stur nach vorn und ging vorbei, als hätte ich es sehr eilig.
Aber die Fishers waren nur
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