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Finsterau

Finsterau

Titel: Finsterau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Maria Schenkel
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keinen klaren Gedanken fassen.
    Nehmt täglich euer Kreuz auf euch und folgt mir nach. Der einzige Unterschied lag im Warum. Seinerzeit war es sein Glaube gewesen. Er hatte nicht abschwören wollen. Er war fest zu seinem Gott gestanden.
    »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal … und ob ich schon wanderte im finstern Tal …«
    Wie ging es weiter? Er konnte sich nicht mehr erinnern.
    An so viele Dinge konnte er sich nicht mehr erinnern. Es ärgerte ihn, warum nur war es auf einmal nicht mehr da? Er fing an, Sachen zu verlegen, oder befand sich an einem Ort, wusste nicht, was er hier wollte oder wo er war. Dann setzte er sich und wartete, bis es ihm wieder in den Sinn kam. Vielleicht hatten sie recht, und er war es gewesen, aber er war doch nicht verrückt. Er stand auf und lief wieder in der Zelle umher.
    Acht Wochen hatten sie ihn seinerzeit behalten, und am Ende hatte er gehen dürfen. Er hatte nicht abgeschworen, er hatte fest zu seinem Glauben gestanden. Seit dem Tag, an dem er das Gelübde abgelegt hatte, hatte er fest dazu gestanden. Daran konnte er sich erinnern, er war nicht vergesslich, war das nicht Beweis genug? Alles war da, jede Einzelheit, ganz klar, als ob es gestern erst geschehen wäre. Noch vor dem Ersten Weltkrieg war er in den Dritten Orden eingetreten. Ein junger Bursch war er damals gewesen und hatte sich geschworen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Als Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Orden trug er seither die Schnur um den Leib. Im letzten Kriegsjahr hatte er Theres geheiratet. Ihre Brüder waren allesamt im Feld geblieben und Vater und Mutter schon lange tot. Sie hatte niemanden mehr, und für ihn war es an der Zeit, sich ein Weib zu suchen. Die Liebe kommt mit der Ehe. Ab diesem Zeitpunkt gingen sie gemeinsam durchs Leben. Sie war keine Schönheit, kleingewachsen, immer zu mager, aber sie war gläubig und genügsam. Ehe Afra geboren wurde,hatte sie vier Kindern das Leben geschenkt, keines überlebte mehr als zwei Tage, eines wurde vor der Zeit tot geboren, ein anderes starb während der Geburt. Er fing an, daran zu zweifeln, ob es richtig gewesen war zu heiraten, weil sie doch – wenn auch über viele Ecken – blutsverwandt waren. Als sie beide schon nicht mehr daran glaubten, dass Gott ihnen ein Kind schenken würde, kam Afra zur Welt. Und nun schien es, als wollte der Herr sie vom ersten Tag an mit diesem Kind einer Prüfung unterziehen. Afra hatte ihren eigenen Kopf, sie sagte die Unwahrheit, log selbst dann noch, wenn er sie dabei erwischte. Sie machte ihm nur Sorgen. Poussierte schon früh mit den Burschen aus der Nachbarschaft. Er verprügelte sie, wollte sie auf den richtigen Weg zwingen. Sie kümmerte sich nicht darum, schüttelte sich wie ein nasser Hund, und er hatte Theres in Verdacht, dass sie sie hinter seinem Rücken tröstete. Gleich nachdem Afra mit der Schule fertig war, ging sie weg. Nur ganz selten kam sie nach Hause. Und wenn, blieb sie nicht lang. Aber sie hätte auch gar nicht im Haus bleiben können. Sie hatten nichts, es reichte gerade zum Leben. Er arbeitete bei der Bahn, Theres saß bis spät in die Nacht hinein an der Nähmaschine und nähte Bordüren und Tressen für die Sonntagstrachten der Bäuerinnen. Auch wenn er nichts von derlei Prunksucht hielt, die Kundschaft kam von überall her, und sie brauchten jeden Pfennig.
    Er ging weiter und weiter, wollte nicht innehalten. Er konnte sich an den Psalm nicht erinnern, es machte ihn wütend. Warum fiel er ihm gerade jetzt nicht ein?
    Er war immer den geraden Weg gegangen. Immer den geraden Weg. Sein ganzes Leben lang. Er hatte gebetet und gearbeitet, versucht, ein guter Mann zu sein und seine Tochter fromm zu erziehen. Er wusste immer, wo sein Platz war im Leben, nur ein Mal hatte er sich aufgelehnt gegen die hohen Herren, und dafür hat er bezahlt. Gleich nachdem die braune Brut an die Macht gekommen war. Alleingelassen hat er sich damals gefühlt, sogar der Pfarrer von der Kanzel redete dem Gesindel nach dem Mund. Aber er las weiter jeden Abend mit Weib und Kind in der Bibel, und so konnte er nicht an sich halten, stand während des Gottesdienstes auf und widersprach. Ein einziges Mal nur in seinem Leben war er aufgestanden und hatte offen widersprochen, hatte vor aller Augen, vor der ganzen Gemeinde widerstanden. Er hatte gesagt, dass es keinen aufrechten Christenmenschen freuen konnte, was da geschah, und dass die sie alle ins Unglück führen würden. Und dass das der Herr Pfarrer und auch der

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