Finstere Gründe
einzige. Zuerst, gab sie zu, hatte sie gehofft und gehofft und nicht glauben können, daß Karin tot sei. Aber nach und nach war ihr nichts anderes übriggeblieben als diese Schlußfolgerung, und es war wirklich besser so — die absolute Gewißheit zu akzeptieren, daß Karin ermordet worden war. Sie war der englischen Polizei dankbar — wie sollte sie es nicht sein? — für ihre erneuten Bemühungen — noch einmal! — und sie hatte natürlich die Leserzuschriften gelesen, die sie regelmäßig von einer englischen Freundin erhielt.
«Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Und einen kleinen schwedischen Schnapps vielleicht?»
Als sie hinaus in die Küche ging, konnte Lewis kaum glauben, daß er es gewesen war, der «ja» zum ersten und «ja» zum zweiten Angebot gesagt hatte. Es war ihm in seiner Laufbahn als Polizist oft geschehen, daß er darum gebetet hatte, Morse wäre in der Nähe, um ihm zu helfen, doch nicht jetzt. Er stand auf und ging langsam durch das Zimmer und musterte längere Zeit einige der Fotos, im besonderen eines von ihnen: drei junge Damen in schwedischer Nationaltracht.
«Ah! Ich sehe, Sie haben meine schöne Tochter gefunden.»
Mrs. Eriksson war leise hereingekommen und stand jetzt neben ihm, zehn bis fünfzehn Zentimeter kleiner als der über 1,80 Meter große Sergeant. Er konnte die süße sommerliche Frische ihres Körpers wahrnehmen, und er fühlte ein unvertrautes Zucken in seiner rechten Schläfe.
«Katarina, Karin, Kristina.» Sie zeigte nacheinander auf jede der drei. «Und alle hübscher als ihre Momma, nicht?»
Lewis antwortete nicht direkt und hielt noch immer das eingerahmte Foto in der Hand. Die drei sahen sich so ähnlich; alle hatten langes, glattes, goldblondes Haar, alle hatten reine Haut und hohe Backenknochen.
«Das in der Mitte ist Karin, sagen Sie?» Lewis betrachtete es noch einmal, das Mädchen, das vielleicht ein wenig ernsthafter als die beiden anderen aussah.
Momma nickte, dann nahm sie — überraschend — Lewis das Foto aus der Hand und stellte es wieder auf seinen Platz, ohne ihr etwas schroffes Verhalten zu erklären.
«Wie kann ich Ihnen sonst noch helfen?» Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen Lewis gegenüber in einem Sessel und stürzte den Schnapps aus dem kleinen, dickwandigen Glas hinunter, bevor sie einen Schluck von dem heißen, starken Kaffee trank.
Lewis stellte ihr eine Reihe von Fragen und machte sich bald ein sehr viel deutlicheres Bild von der Tochter, von der die Mutter jetzt so liebevoll sprach.
Karin war ein gescheites Mädchen gewesen, wenn auch manchmal etwas zur Faulheit neigend. Sie hatte mit achtzehn die höhere Schule in Uppsala verlassen, mit guten Zukunftsaussichten; sie war attraktiv, war eine sehr gute Schwimmerin und Tennisspielerin und hatte eine größere Anzahl von Auszeichnungen von Arbeitsgemeinschaften in der Schule und bei den Pfadfinderinnen erworben, für Vogelbeobachtung, Landkartenlesen, Felsenklettern, Judo, Sticken und Amateur-Musicals. Kurz nachdem Karin die Schule verlassen hatte, war Irmas Ehemann, Staffan Eriksson, mit einer geheimnisvoll verführerischen Brünetten eingezogen, die er auf einer Geschäftsreise nach Norwegen kennengelernt hatte, und, nun, das war es in etwa. Irma Eriksson stellte die Beine nebeneinander und lächelte Lewis sanft an.
«Noch einen Schnapps?»
«Warum nicht», sagte Mr. Lewis.
Katarina (so fuhr Irma Eriksson fort), ihre älteste Tochter, war verheiratet und arbeitete als Dolmetscherin bei der Europäischen Kommission in Straßburg, die jüngste Tochter, Kristina, erst achtzehn, war in ihrem letzten Schuljahr und wollte Sozialwissenschaft studieren. Sie wohnte zu Hause, hier in der Wohnung, und wenn Mr. Lewis gern mit ihr sprechen würde...? Wenn Mr. Lewis länger in Stockholm bliebe?
Es zuckte wieder in Lewis’ Schläfe, und er lenkte die Unterhaltung zurück auf Karin.
Wie war Karin — als Person? Nun, ihre Mutter nahm an, man könnte sie nennen — ja, das vor allem anderen. Im Sommer bevor sie nach England ging, hatte sie zwei Monate in einem Kibbuz in der Nähe von Tel Aviv verbracht, und im Jahr davor hatte sie sich einer Gruppe von Umweltschützern im Arctic Circle angeschlossen. Aber sie war nie (zum erstenmal schien Irma Eriksson Schwierigkeiten mit ihrem englischen Wortschatz zu haben) ein Mädchen gewesen. Nein! Das war es nicht, was sie meinte! Sie war nie eines von den Mädchen gewesen, die ins Bett gingen mit... Sie
Weitere Kostenlose Bücher