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Finstere Gründe

Finstere Gründe

Titel: Finstere Gründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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naturwissenschaftlichen Fächern mit Auszeichnung bestanden, war an dieser Universität geblieben, um seinen Dr. phil. zu machen, war dann zwei Jahre lang an der Harvard-Universität in der Forschung tätig gewesen, bis er schließlich an der anderem Universität zum Fellow gewählt worden war. Ein Jahr später hatte er sich in eine Bibliothekarin von der Bodleian verliebt, sie sechs Monate später geheiratet, in der Folge zwei Kinder gezeugt, beides Mädchen. Die eine studierte jetzt Psychologie an der Universität von Durham, die andere war tot, vor neunzehn Tagen überfahren worden, als sie den Cumnor Hill hinunter nach Oxford hineingeradelt war.
    Er war nicht völlig überrascht gewesen, als er am Dienstag, dem 21. Juli, vormittags den Anruf von Chief Inspector Morse erhielt, und man einigte sich auf ein Treffen am gleichen Tag um 14 Uhr in Hardinges Zimmern im Lonsdale College. «Was weiß Ihre Frau über Ihre Interessen in der Seckham Villa?»
    «Nichts. Absolut gar nichts. Können wir Lynne, meine Frau, also bitte raushalten? Sie ist noch immer schrecklich durcheinander und nervös... Gott weiß, was...»
    Dr. Hardinge sprach in abgehackten Sätzen, die von mündlichen Gedankenstrichen unterbrochen wurden. Er war ziemlich klein, hatte krauses graues Haar und trug einen dunklen Anzug, jetzt, im Hochsommer, da viele seiner Kollegen in T-Shirts und Trainingshosen durch die High Street gingen.
    «Das kann ich natürlich nicht versprechen...»
    «Verstehen Sie nicht? Ich würde alles tun — wirklich alles —, damit Lynne nicht leidet. Ich weiß, daß sich das schwächlich anhört — es ist schwächlich — es ist das, was alle sagen — ich weiß — , aber es ist wahr.» Zwischen den hochgezogenen Schultern beugte Hardinges Kopf sich vor wie der einer ernsthaften Schildkröte.
    «Kennen Sie diesen Mann?» Morse reichte ihm eines von den im Garten der Seckham Villa gemachten Fotos...
    Hardinge nahm eine Halbbrille aus ihrem Etui, schien sie aber gar nicht zu benötigen; er schaute nur ein oder zwei Sekunden auf das Foto und gab es Morse wieder zurück.
    «James — oder Jamie? — Myton. Ja, ich kenne ihn — kannte ihn — eine Art Hansdampf in allen Gassen.»
    «Wie haben Sie ihn kennengelernt?»
    «Hören Sie — ich glaube, es wäre besser, wenn ich es Ihnen erzähle — von mir — ich denke, es wäre wirklich besser.»
    Morse lauschte mit Interesse, und ohne moralische Empörung, als Hardinge seine Apologie für ein lebenslanges sexuelles Abenteurertum vorbrachte.
    Als er noch ein Junge war, hatte sich regelmäßig eine Reihe von älteren Frauen in seine Träume gedrängt, und er hatte sich bereitwillig, beinahe ohne Schuldgefühle, den sexuellen Phantasien hingegeben, die er so leicht hervorzaubern konnte — Phantasien, bei denen es keine Konsequenzen gab, keine Enttäuschungen. Als er in den Zwanzigern war, hätte er es vorgezogen —zog er es vor—sich die pornografischen Filme und Videos anzusehen, an die man damals so leicht rankam. Dann hatte er Lynne kennengelernt — heb, anständig, vertrauensvoll — , die völlig entsetzt und so verletzt sein, sich schämen würde, wenn sie auch nur einen Bruchteil der Wahrheit argwöhnte. Aber nach seiner Heirat bestanden seine Phantasien weiter, nahmen sogar noch zu. Er sehnte sich nach einer immer größeren Abwechslung in seiner sexuellen Befriedigung, und dies hatte nach und nach zu einer Reihe von ziemlich erbärmlichen Beziehungen geführt: private Filmclubs, importierte Videos und Magazine, Live Sex-Shows, -Parties — für alle war er ein eifriger Stammkunde geworden. Die Erwartung solcher Ereignisse! Die außerordentlich erregenden Worte, die zum Sesam öffne dich für derartige erotische Unterhaltung wurden: «Ist jedermann bekannt?»
    «Und das spielte sich regelmäßig in der Seckham Villa ab?»
    «Ziemlich regelmäßig, selten mehr als fünf oder sechs Teilnehmer, gewöhnlich Leute, die wir ein- oder zweimal vorher gesehen hatten.»
    Morse beobachtete den adretten Betrüger, der sich die ganze Zeit vorbeugte, ein Mann in den mittleren Jahren, mit jüdischem Gesichtsschnitt, blasser Hautfarbe, etwas pedantischer Ausdrucksweise. Er hatte das Gefühl, er sollte den Mann wenigstens ein wenig verachten, aber er konnte es nicht. Wenn Hardinge leicht pervers war, so war er es auf eine außerordentlich ehrliche Weise, und seine verblaßten, wäßrigen Augen ließen ihn müde und etwas verloren aussehen, schwach, ohne Stärke

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