Finsterherz
brauchte ihn, um die andere Hälfte des Blattes zu finden. Was würde er dann tun? Katta brauchte er überhaupt nicht. Er brauchte nur Mathias. Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. Sie konnte jetzt nach unten gehen und verschwinde n – es würde keine Rolle spielen. Wahrscheinlich würde er sie nicht einmal suchen. Aber so weit war sie schon einmal gewesen und auch dieses Mal brachte sie es nicht fertig. Sie schaute Mathias an, wie er mit wächsernem Gesicht auf dem Bett lag, und wusste, dass sie ihn nicht im Stich lassen konnte.
»Er braucht einen Doktor«, sagte sie.
»Nachdem wir bei Jakob waren«, erwiderte König. »Dann bringen wir ihn zu einem Arzt.«
»Nein«, widersprach Katta, »er braucht jetzt einen.«
»Heute Abend«, sagte König; er ließ sich nicht umstimmen. »Nachdem wir bei Jakob waren.«
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben. »Dann muss er aber zu einem Doktor«, sagte sie.
»Wir bringen ihn zu einem Arzt«, versprach König.
Aber sie glaubte ihm nicht.
Der Rest des Tages schleppte sich träge dahin, während Mathias schlief. Katta hielt sich tunlichst von Stefan fern. Sie saß am Fenster und schaute hinaus. Sie hatte eine Prozession mitverfolgen können. Die Glocken hatten aufgehört zu schlagen, alle bis auf eine, die mit feierlichem Geläut die Prozession begleitete, als sie am Hafen entlangzog. Katta sah sie von Weitem kommen– vorneweg die Statue eines Engels, dessen Kleider und Federn ganz aus Gold gearbeitet waren. Die Männer, die sie auf ihren Schultern trugen, konnten nur kleine Schritte machen, so schwer war sie. Ihre Flügel waren zum Meer hin ausgebreitet. Ministranten mit schwingenden Räuchergefäßen waren vorausgegangen und Priester im Ornat waren ihr gefolgt. In der Menge gab es Einzelne, die kleine Statuen und Bilder des Engels mit sich trugen und sie dem Priester hinhielten, damit er sie segnete.
Aber nicht der Engel hatte Katta in Staunen versetzt, obwohl er prächtig und golden war und die Männer ihn an einer aufgehackten Stelle im Eis herunterließen, damit er das Wasser berühre. Nein, was Katta am meisten beeindruckte, war der Herzog von Felissehaven. König hatte ihn ihr gezeigt. Er trug eine Robe, die alle anderen an Pracht übertraf; hinter ihm ging gemessenen Schrittes der Rat der Stadt. Die Leute verneigten sich, wenn er an ihnen vorbeischritt, und Katta, die das Schauspiel von ihrem Fenster aus beobachtete, erkannte plötzlich, dass sie es nicht aus Respekt oder Zuneigung taten, sondern aus Angst. Eine Welle der Furcht lief durch die Menge unten, und als Katta das Gesicht des Herzogs erblickte, wusste sie auch den Grund: Es war hart und kalt, das Gesicht eines Mannes ohne Erbarmen. Beim Voranschreiten sah er die Menschen an, drehte den Kopf immer wieder langsam von der einen auf die andere Seite, und seine Untertanen zitterten vor Angst.
So sei es nicht immer gewesen, erzählte König ihr. Es hatte eine Zeit gegeben, da die Leute den Herzog liebten. Doch vor zehn oder elf Jahren hatte sich das geändert. Er sei krank geworden, hatte es damals geheißen. Jetzt war er grausam und niemand riskierte es, sich ihm zu widersetzen. Ein dunkles Verlies oder der Strick wartete auf jeden, der es wagte.
Lange nachdem die Menge sich zerstreut hatte, erinnerte Katta sich noch an sein Gesicht. Wenn sie sich nicht so ausschließlich darauf konzentriert hätte, wäre ihr in der Prozession vielleicht noch ein Gesicht aufgefallen, eines, das sie kannte. Es war das des herzöglichen Leibarzte s – rund wie der Vollmond. Und der Mann, dem dieses Gesicht gehörte, trug einen Gehstock mit silbernem Knauf.
Es war bereits dunkel, als König Mathias endlich weckte. Er hatte ihn den ganzen Tag schlafen lassen, aber selbst das war noch nicht genug, um seine Kräfte wiederherzustellen. Mathias hätte noch Stunden weiterschlafen können. Wenngleich halb benommen von der Arznei, ließ er sich, ohne zu murren, anziehen und in seinen Mantel wickeln. Dann entzündete König eine Fackel und führte die Kinder in der Kälte durch die vereisten Straßen. Katta hatte sich bei Mathias untergehakt. Sie war sich nicht sicher, ob er schon ganz wach war; er ging, wie man im Traum geht. Stefan hielt sich auf ihrer anderen Seite. Das gefiel ihr ganz und gar nicht, aber sie konnte nichts dagegen tun. König schwieg. Im Fackelschein sah sie sein angespanntes Gesicht und fragte sich, woran er wohl dachte.
Einige Orte erkannte sie wiede r –
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