Finsterherz
den Bären , die Straße, durch die sie vor dem betrunkenen Mann geflüchtet war. Dann war auf einmal alles fremd. Sie überquerten die schmale Brücke, die zu dem dunklen, engen Hof führte, von dem aus man Jakobs Haus erreichte. Die Kerzen im Eingang und auf der Treppe waren gelöscht worden. Im Dunkeln stiegen sie die Stufen hinauf, König mit der flackernden Fackel vorneweg. Als sie zu dem Treppenabsatz kamen, klopfte König an die Tür des alten Mannes, erhielt jedoch keine Antwort. Er rief seinen Namen, doch von drinnen kam nicht das leiseste Geräusch. Er warf Stefan einen Blick zu und drückte gegen die Tür; sie schwang auf.
Der Raum war kalt und dunkel. Jakob saß auf seinem Stuhl, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Es sah aus, als schliefe er. König hob die Fackel etwas höher und sagte seinen Namen, doch der alte Mann rührte sich nicht. Deshalb fasste er ihn unterm Kinn und hob sein Gesicht. Und da sahen alle, dass um Jakobs Hals ein Stück Schnur lag, fest zusammengezogen. Er schlief nicht.
Er war tot.
Die Schrift an der Wand
Jakob war nicht der erste Tote, den Katta sah. Sie hatte sogar schon Erhängte gesehen. Damals hatte sie sich eingeredet, dass sie nur schliefen, und hatte weggeschaut. Wenn sie nachts die Augen schloss, versuchte sie die Gesichter der Toten und das Blut auszublenden, aber wie sehr sie sich auch bemühte, die Bilder ließen sie nicht los. Und obwohl sie es nicht wollte, musste sie jetzt zu Jakob hinsehen. Er saß in seinem schmutzigen Sessel, sein Kopf war nach hinten gekippt. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas zog ihren Blick immer wieder magisch an.
König schloss die Fensterläden. Er wies Stefan an, bei der Tür Wache zu halten. Mathias stand indessen da und schüttelte langsam den Kopf. Er hatte plötzlich gemerkt, dass er sich in einem fremden Zimmer befand, und hatte jetzt das Gefühl, als würde der Schlaf wie eine Decke von ihm weggezogen. Tashkas Arznei hatte entweder ihre Wirkkraft verloren oder er gewöhnte sich langsam dara n – denn die Menge, die König ihm eingeflößt hatte, hätte normalerweise genügt, um ihn eine Woche lang in Schlaf zu versetzen. Er blinzelte und schaute Jakob an, erkannte diesen aber zunächst nicht wieder.
»Wer ist der Mann?«, fragte er langsam.
Beim Klang seiner Stimme drehte Katta sich um. Im Fackellicht sah sie, dass seine Haut grau war und glänzte. Falls sie jetzt schnell verschwinden mussten, konnte er vielleicht mitlaufen. Doch er schaute nicht sie an, sondern Jakob.
»Warum zeigt er mit dem Finger?«, fragte er.
Katta wandte sich Jakob noch einmal zu und wusste plötzlich, was zuvor ihren Blick gebannt hatte. Sie hatte es nur nicht begriffen, bis Mathias es ausgesprochen hatte: Jakob hatte eine Hand auf die Brust gelegt, aber die andere lag auf der Armlehne des Sessels, und genau das war merkwürdig. Wenn jemand stranguliert wird, greift er mit beiden Händen nach dem Strick um seinen Hals. Nicht so Jakob. Er konnte nur mit einer daumenlosen Hand nach dem Strick gegriffen haben, denn mit der anderen umklammerte er fest die Sessellehne. Aber der Zeigefinger dieser Hand war ausgestreckt.
»Er zeigt mit dem Finger«, sagte sie.
König drehte sich um und blickte erst sie, dann Jakob an.
»Er deutet auf die Wand«, fuhr sie fort.
König beugte sich über den Toten und folgte der Linie seines Fingers, aber gegenüber war nichts zu sehen.
»Vielleicht zeigt er auf etwas, was hinter der Wand liegt«, meinte Katta.
König kniete sich davor, bewegte die Fackel hin und her, um besser sehen zu können. »Nein«, sagte er schließlich, »hier ist etwas eingeritzt. Ein Name und ein Datu m – zwei Daten. Der Name einer Frau und zwei Daten.«
»Vielleicht die Zeit, in der sie hier gewohnt hat«, vermutete Mathias. Er hatte die Augen geschlossen, bekam aber alles mit, was geschah.
König schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind wichtige Daten. Es müssen Lebens- und Sterbedatum sein.«
Er trat näher an die Wand. Der Name, Gelein Merlevede, war nur ganz leicht in den Putz gekratzt. Wer nicht wusste, dass da etwas geschrieben stand, hätte ihn mit Sicherheit übersehen.
»Da steht noch mehr«, sagte er.
Er kniff die Augen zusammen und hielt die Fackel an die Schrift. Etliche Augenblicke schwieg er. Dann sah er Katta an. »Da steht: Meine geliebte Frau, Gelein Merlevede .«
»Was soll das bedeuten?«, fragte sie.
Dieses Mal lächelte König, sagte aber nichts.
»Woher wissen wir überhaupt, dass sie etwas
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