Fire after Dark - Dunkle Sehnsucht
meiner Abschlussarbeiten sich mit der Entwicklung von Expressionismus und Kunst zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg befasste. Die Gemälde hier sehen aus, als könnten sie unmittelbar von jener Ära beeinflusst worden sein. Im Schaufenster liegt eine weiße Karte, auf der in wunderbar klarer Handschrift zu lesen steht:
Erfahrene/r Galerie-Assistent/in gesucht.
Befristete Stelle.
Bitte sprechen Sie uns an.
Ich starre einen Moment lang auf die Karte, sehe mein eigenes, schattenhaftes Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Ich bin nach London mit der diffusen Absicht gekommen, mir irgendeinen Sommerjob zu suchen, um mich abzulenken und vielleicht den ersten Schritt in ein neues Leben zu tun. Schließlich kann ich nicht auf ewig zu Hause im Café arbeiten. So viele Freunde von mir sind nach London gezogen, um hier nach der Uni einen Neustart zu wagen, da ist es sinnvoll, dass ich versuche, mir hier ebenfalls eine Zukunft zu schaffen. Ich hatte lange das Gefühl, dass ich den Anschluss verpasst habe, weil ich mir über meinen weiteren Lebensweg noch keine Gedanken gemacht hatte, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Laura hat mich ohnehin eingeladen, mit ihr in London zusammenzuziehen. Sie schlug vor, dass wir uns eine Wohnung oder ein Haus teilen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich mir ohne eine Arbeitsstelle die Miete leisten sollte, und außerdem wollte ich ja bei Adam bleiben.
Im Innern der Galerie nehme ich eine Bewegung wahr und erhasche einen Blick auf einen großen, dürren Mann mit hohen Wangenknochen und einer Adlernase. Er trägt einen dunklen Anzug und steht neben einem Schreibtisch ungefähr in der Mitte der Galerie. Ob er mich gesehen hat?
Ich will weitergehen und die Sache vergessen, aber irgendetwas hält mich zurück. So schön und elegant wie jetzt werde ich nie wieder aussehen. Wenn ich einen künftigen Arbeitgeber heute nicht beeindrucken kann, dann wird mir das nie gelingen. Bevor ich noch so recht weiß, was ich da überhaupt tue, stoße ich schon die Tür auf und gehe selbstsicher auf den Mann zu. Meine Absätze klacken auf dem Holzboden. Er dreht sich zu mir um, und ich bemerke, dass er kurze, graublonde Haare hat, mit gefleckten, stoppeligen Koteletten und einer kahlen Stelle auf dem Scheitel. Seine grauen Augen blicken leicht verschleiert, und unter der beeindruckend vorstehenden Nase hat er dünne Lippen und ein wohlgeformtes Kinn. Er trägt eine Brille mit Goldfassung, die so unauffällig ist, dass sie beinahe unsichtbar scheint. Seine Hände sind unglaublich feingliedrig, und alles in allem vermittelt er den Eindruck von Eleganz und Bildung.
Er sagt nichts, während ich auf ihn zukomme, hebt nur neugierig die Augenbrauen.
»Ich habe Ihre Karte im Schaufenster gesehen«, sage ich mit meiner souveränsten Stimme. »Suchen Sie noch jemand? Falls ja, könnten Sie mich für die Stelle in Betracht ziehen.«
Seine Augenbrauen heben sich noch etwas höher, während er mich rasch mustert, das Kleid betrachtet, die Schuhe, das Make-up.
»Ja, ich suche noch jemand, aber für heute Abend sind bereits Vorstellungsgespräche anberaumt und …« Er lächelt mich freundlich, aber distanziert an. »… ich fürchte, ich suche jemand mit Erfahrung.«
Mir ist klar, dass er keine Sekunde lang glaubt, ich könne der Aufgabe gewachsen sein. Möglicherweise ist mein Outfit tatsächlich kontraproduktiv. Er hält mich für ein hübsches Dummchen, zu sehr an Lippenstift interessiert, um sich mit Kunst auszukennen. Das ärgert mich. Ein moderner Mann sollte doch wissen, dass eine Frau nicht allein nach ihrem Aussehen beurteilt werden darf. Überraschungspakete gibt es in allen Formen und Farben.
Ich spüre, wie ein Funke meines alten Selbstvertrauens zurückkehrt. »Wenn Sie jemand suchen, der Erfahrung im Umgang mit Menschen hat, dann sollten Sie wissen, dass ich viele Jahre in der Einzelhandelsbranche mit Kunden zu tun hatte.« Das stimmt so nicht ganz – gehört ein Café überhaupt zur Einzelhandelsbranche? Aber wir verkaufen im Café auch Souvenirschnickschnack, Postkarten und eine wilde Auswahl an Porzellanbechern, also zählt es vielleicht doch. Ich fahre fort, ohne mit der Wimper zu zucken: »Und wenn Sie jemand mit Fachwissen suchen, dann sollten Sie wissen, dass ich einen Abschluss in Kunstgeschichte habe. Mein Hauptfach waren die Schulen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die Bewegungen des Fauvismus und Kubismus vor dem ersten Weltkrieg und ihre Weiterentwicklung nach dem
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