Fire after Dark - Tiefes Begehren: Roman (German Edition)
hätte mich eine solche E-Mail vor Entzücken und Vorfreude direkt in die Stratosphäre gehoben. Jetzt muss ich sie zweimal lesen, fühle mich schuldig und elend. Ungeachtet der Tatsache, dass ich in meinem Herzen unschuldig bin, wenn ich mich in Taten schuldig gemacht habe, wie soll ich es Dominic dann auf eine Weise erklären, die er verstehen kann?
Wie soll ich mir künftig im Spiegel in die Augen schauen? Und falls es doch Andrei war, dann wird er mich zweifellos darauf ansprechen – wie zum Teufel soll ich dann reagieren?
Ich verlasse das Albany um 17 Uhr und wandere über den Piccadilly zur Jermyn Street, versuche, mich von meinen Sorgen durch einen Schaufensterbummel abzulenken. Ich biege in eine weitere Straße, in der sich eine Galerie an die andere reiht. In ihren Schaufenstern sind herrliche Kunstwerke ausgestellt, im weichen Licht von Scheinwerfern bestens zur Geltung gebracht. Mein Blick fällt auf das Gemälde einer lesenden jungen Frau. Sie ist im Profil dargestellt, sitzt auf einer Fensterbank vor einem großen Seidenkissen. Ihr Kopf neigt sich dem Buch zu, das sie in einer Hand hält, während ihr anderer Arm lässig auf der Rückenlehne ruht. Sie ist jung, mit frischen, rosa Wangen und einer glatten Stirn. Ihr Blick ist nach unten auf die Buchseiten gerichtet. Ihre Haare sind zu einem schlichten Knoten hochgesteckt, um den ein Haarband gewickelt ist. Sie wirkt modern, und doch trägt sie ein Kleid aus dem 18. Jahrhundert, das eindeutig französisch ist: hellgelb und tailliert, lange Ärmel mit filigranen Seidenbündchen und einem rosafarbenen Band, das in einer üppigen Schleife unter der Brust gebunden ist. Sie trägt ein Schultertuch – dort nennt man es wohl Fichu –, das mit einem weiteren rosa Band befestigt ist. Sie wirkt ernst und schön. Das Gemälde fängt die junge Frau so lebendig ein, dass ich beinahe erwarte, wie sich ihre Brust hebt und senkt, wie ihre Finger die Seite umblättern.
Ich bemerke, dass der Galeriebesitzer schließen will. Er bereitet sich darauf vor, das Eisengitter vor die Fenster zu schieben. Wenn er solche Gemälde besitzt, verstehe ich diese Sicherheitsmaßnahme.
Einem Impuls folgend betrete ich rasch die Galerie. Der Besitzer wird schon kahl und hat nur noch ein Büschel weißer Haare am Hinterkopf. Sein Gesicht ist rot, mit ausgeprägten Hängebacken. »Es tut mir leid, wir schließen gerade«, sagt er kurz angebunden.
»Sie haben in Ihrem Schaufenster ein wunderbares Gemälde von einer lesenden Frau. Was soll es kosten?«
Der Mann zwinkert mich mit offenem Mund an. »Junge Frau, es kostet garantiert weitaus mehr, als Ihnen zur Verfügung steht.«
Ich hebe die Augenbrauen. »Wollen wir es auf einen Versuch ankommen lassen? Von welchem Künstler ist es?«
»Der Maler ist Jean-Honoré Fragonard.«
Das überrascht mich jetzt. »Fragonard … der Fragonard?«
»Nun, der Fragonard, das kann mehrere Personen bedeuten, nicht zuletzt Marie-Anne, Jean-Honorés Frau. Ganz zu schweigen von seinem Sohn und seinem Enkel. Aber ja, wenn Sie den Pralinenschachtel-Rokoko-Fragonard meinen … tja, dann haben Sie recht: das Bild ist von ihm.«
Ich kann es kaum glauben. Die berühmtesten Gemälde von Fragonard sind enorm theatralisch: Kostümdramen voller Rüschen und Volants, mit unglaublich schmalen Taillen und biegsamen Gliedmaßen und porzellanweißen Wangen mit rosa Flecken. Stilisierte Landromantik auf Französisch: Aristokraten bei ausgelassenen Spielen in Grotten, alle in Seide gekleidet und mit Florentinerhüten; Bauernburschen, die von Damen der Gesellschaft seufzend Küsse stehlen. Ich erinnere mich an meinen Besuch in der Wallace Collection zu Beginn des Sommers, als ich das berühmte Gemälde Die Schaukel sah: eine Rokoko-Schönheit thront auf einer Schaukel und streckt ihr Bein anatomisch unmöglich in die Luft, wobei ihr ein winziger, rosa Schuh vom Fuß gleitet und die weißen Strümpfe freilegt. Ihr lächelnder Galan erhascht einen Blick unter ihre Röcke, während sie hoch über seinen Kopf schaukelt. Ihre rosa Volants und Rüschen haben Hunderte von Porträts von märchenhaften Prinzessinnen inspiriert und junge Mädchen nach Kleidern in eben dieser rosigen Machart hungern lassen. Das Bild ist zauberhaft und meisterlich – aber nichts im Vergleich zu dem Gemälde im Schaufenster der Galerie, mit seinen kühnen, breiten Pinselstrichen und dem Einsatz von Farbe, um die Wirkung des Lichts auf Haut und Stoff zu unterstreichen. Das Gesicht und die
Weitere Kostenlose Bücher