Firelight 2 - Flammende Träne (German Edition)
Schwester das nicht vergessen.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich, wie Cassian sich entfernt. Höre das Geräusch seiner Schritte. Er geht nicht weit weg. Nur ins Wohnzimmer.
Er hat seine Befehle. Er ist schließlich derjenige, der mich zu der Vollversammlung bringen soll. Er wird nicht von hier verschwinden.
Als könnte sie meine Gedanken lesen, sagt Tamra: »Wir halten zu dir, Jace. Mum und ich. Unsere Familie wird zusammenhalten.«
Ich betrachte meine Schwester, die neben Mum in die Hocke geht. Mum sieht mich ebenfalls an und ihr Blick wirkt klarer, vertrauter als der jener Fremden, zu der sie in den letzten Wochen geworden war. Jetzt ähnelt sie wieder mehr der Mutter, die ich kenne.
»Du bist zurückgekommen. Du bist freiwillig zurückgekommen. Das muss doch etwas zählen«, sagt sie und beruhigt mich damit etwas. Ich fühle mich sogar ein bisschen erleichtert. Sie hat gewusst, dass ich weg war. Sie hat es gewusst und es war ihr nicht egal. »Du bist keine Abweichlerin. Severin kann gerade nicht klar denken. Das werden sie schon merken. Bisher ist hier noch nie jemand zu Unrecht bestraft worden.«
Ich bin versucht zu fragen: »Und was ist mit zu Recht?«
Ich bin nicht unschuldig. Ich habe Dinge getan, die ich nicht hätte tun dürfen.
Doch dann nimmt Mum meine Hand und ihr Griff ist warm und entschlossen. Er fühlt sich an wie damals, als ich klein und sie meine ganze Welt war. Als sie und Dad noch alles mit einer einfachen Berührung in Ordnung bringen konnten.
Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so allein. Was auch immer passiert, ich weiß, dass meine Familie immer für mich da sein wird. Das macht mich stark und gibt mir das Gefühl, dass ich alles durchstehen kann.
22
T amra hält meine Hand, während wir zusammen ins Stadtzentrum gehen. Jetzt sind auch noch andere Leute auf der Straße und strömen in dieselbe Richtung. Sie starren mich ganz unverblümt durch die Nebelschwaden hindurch an – sie zeigen sogar mit dem Finger auf mich. Es scheint ihnen nichts auszumachen, dass ich sie dabei ertappe. Und warum sollte es das auch? In ihren Augen bin ich diejenige, die etwas falsch gemacht hat und der im Beisein des gesamten Rudels öffentlich der Prozess gemacht wird.
Tamra, die links neben mir läuft, drückt aufmunternd meine Hand.
Da wir Mum dabeihaben, laufen wir sehr langsam. Sie geht rechts neben mir und kneift die Augen zusammen, sobald hier und da ein paar gedämpfte Lichtstrahlen durch den Nebel dringen. Wie ein Maulwurf, der ans Tageslicht kommt.
Als wir den Bürgersaal erreichen, ist er bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Der Lärm der Menge verebbt, als ich in Sicht komme. Man macht Platz für mich und erlaubt mir, die Vordertreppe hinaufzugehen.
Dort steht Severin hinter dem steinernen Geländer. Hinter ihm ein halbes Dutzend Älterer, die wie Marionetten wirken. Ich bin nicht naiv. Das Publikum hat gar nichts zu sagen. Was auch immer hier passiert, ist ganz allein seine Entscheidung.
Cassian stellt sich nicht zu ihnen. Ich vermute, dass er das nicht darf. Noch nicht. Er hat kein offizielles Amt. Stattdessen nimmt er ganz vorn in den Reihen der Zuschauer Platz.
Ich lockere meinen Griff um Tamras Hand und gehe die Stufen hoch, doch sie fasst mich nur umso fester und lässt mich nicht los.
»Ich gehe mit dir«, sagt sie.
Az hinter ihr nickt bekräftigend. Als wäre sie ebenfalls der Meinung, das sei das Beste.
»Nein. Ich muss das allein durchstehen.« Ich bezweifle ohnehin, dass sie irgendjemand mit mir dort hochgehen lassen würden. Ich blicke von Tamra zu Mum und zu Az. »Wartet hier.« Ich zaubere ein schwaches Lächeln auf meine Lippen. Ihretwegen. »Ich komme gleich wieder. Es wird alles gut werden.« Auch das sage ich um ihretwillen. Ich habe keine Ahnung, was dort oben gleich passieren wird. Mein Magen krampft sich zusammen und mir wird ganz schlecht. Und doch bereue ich es nicht, dass ich zurückgekommen bin. Ich musste einfach. Um meiner Familie willen. Um Mirams und Cassians willen.
Ich stehe neben Severin, während er meine Vergehen laut vorliest. Er fängt mit den weniger schwerwiegenden an.
Nichtantreten des Dienstes.
Verlassen des Rudelgeländes ohne Erlaubnis.
Ich zucke innerlich zusammen bei dem Gedanken daran, wie die Menge wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, warum ich das Gelände verlassen habe. Für wen. Das wäre noch ein weiteres Vergehen auf der Liste. Severin spricht weiter.
Fliegen bei Tageslicht.
Kontakt zu Jägern.
Seine
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