Firelight 2 - Flammende Träne (German Edition)
hauchdünnen feuerroten Flügel strecken sich hoch in die Luft und befinden sich dadurch in der perfekten Position für den Schnitt.
Ich fauche und zittere unkontrollierbar, als der kühle Stahl eine der drahtigen Sehnen berührt, die meinen rechten Flügel durchziehen.
Die Hände an meinen Armen packen kräftiger zu und schnüren mir das Blut in den Oberarmen ab.
»Nicht bewegen«, warnt mich eine Stimme. »Ich will dir ja nicht aus Versehen den ganzen Flügel abschneiden.«
Ich unterdrücke ein Schluchzen und halte still.
Dann bin ich plötzlich frei.
Niemand berührt mich auf einmal mehr. Kein kalter Stahl berührt mehr meinen Flügel, bereit, ihn zu brechen und zu durchtrennen …
Ich stolpere von dem Block herunter. Falle auf den Betonboden. Tränen brennen in meinen Augen und lassen meine Sicht auf Cassian verschwimmen, der über mir thront und mich aus ungewöhnlich lebhaften Augen ansieht, während sich seine Brust dabei heftig hebt und senkt.
Severins Stimme dröhnt durch den Saal und bringt die Menge zum Schweigen. »Es wurde eine Alternative zum Flügelstutzen vorgeschlagen und für annehmbar befunden.«
Mein Kopf schnellt in Severins Richtung. Hoffnung blüht in meinem Herzen auf: Ich werde diese Alternative auf jeden Fall akzeptieren. Egal, worin sie besteht. Jede Alternative ist besser als das hier.
Was könnte schlimmer sein, als für den Rest meines Lebens ein Krüppel zu bleiben?
»Falls Jacinda einwilligt, noch heute den Ehebund mit Cassian zu schließen, werden ihre Flügel verschont bleiben …«
Die Hitze entweicht vollständig aus meinem Körper. Mit einem Mal spüre ich Eiseskälte in meinem Inneren.
Mit wackligen Beinen stehe ich auf und blicke wie versteinert über das Meer sprachloser Gesichter. Aber keines davon ist so fassungslos wie meines.
Mein Blick sucht Cassians. Seine Augen sehen genauso kalt aus, wie sich mein Herz anfühlt. Sie sind vollkommen schwarz, ohne den kleinsten Lichtschimmer. Kein Wind. Kein Himmel. Nichts.
Seine Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich zusammen und versperren jeder Erklärung den Weg, warum er das hier getan hat.
Fragend blicke ich in sein Gesicht und versuche, darin eine Antwort zu finden, versuche, seine Beweggründe zu verstehen.
Das? Das ist es also, was er seinem Vater als Alternative vorgeschlagen hat?
Warum hat er das getan? Will er wirklich diese Bindung mit mir eingehen? Oder bringt er damit ein Riesenopfer? Zumindest sieht er nicht besonders glücklich darüber aus … darüber, sich selbst aufzugeben, um mich zu retten.
»Sie ist einverstanden«, verkündet Cassian und sieht mir dabei herausfordernd in die Augen. Weil er weiß, dass ich sein Angebot nicht ablehnen kann. Nicht, wenn Flügelstutzen die einzige Alternative ist.
Keiner wartet ab, ob Cassian recht hat mit seiner Aussage. Ich werde eilig weggebracht. Die Älteren werfen mich in die Arme ihrer Ehefrauen, die frohgemut stets nur ihnen und dem Rudel dienen. Genau das erwarten sie auch von mir. Dass ich unterwürfig bin. Pflichtbewusst. Dieses Bild lässt mich fast auflachen. So werde ich nie sein.
Ich recke den Hals, während ich die Stufen hinuntergehe, und versuche, irgendwo rechts von mir Tamra zu entdecken. Ich muss sie einfach sehen.
Als ich sie endlich entdecke, versetzt mir ihr Anblick einen eiskalten Stich ins Herz. Alles an ihr ist blass. Ihre Haare. Ihr Gesicht. Sogar aus ihren Augen ist jede Farbe gewichen, sie wirken durchsichtig wie Eiszapfen. Ihre traurig wirkenden Lippen öffnen sich, doch es kommt kein Laut heraus.
Und Mum. Über den Albtraum, den ich in den letzten Minuten erlebt habe, habe ich sie ganz vergessen. Ich suche nach ihr, aber sie ist natürlich nicht mehr da. Ihre Verbannung wurde nicht einfach aufgehoben, nur weil sie mich verschont haben. Verschont. Kann man das wirklich so nennen?
Ich stelle Blickkontakt mit Tamra her, als ich an ihr vorbeigezerrt werde, und versuche, ihr auf diese Art mitzuteilen, dass es mir leidtut. Ich will nicht, dass das hier passiert. Es wird nicht passieren. Das wird es auf keinen Fall.
Doch als ich weggebracht werde, wird mir klar, dass das eine Lüge ist. Ich kann es nicht verhindern.
Vielleicht habe ich mich selbst belogen, als ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle – als ich glaubte, ich könnte das Schicksal umgehen, das mir das Rudel schon vor langer Zeit vorherbestimmt hat.
23
D ie Nacht ist ruhig und still, obwohl so viele Menschen um mich herumstehen. Der Nebel wirkt jetzt
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