Firkin 05 - Fahrenheit 666
gefallen, da er nichts mehr von der angenehm klaustrophobischen Enge seiner Höhle verspürte. Statt dessen hockte er entsetzt auf einem gefährlich steil abfallenden Schieferdach und starrte zwölf Meter in die Tiefe. Ohne einen Sicherheitsgurt oder ein Auffangnetz.
Das Schwindelgefühl rang mit der Agoraphobie um die Vorherrschaft, nahm sie in den Schwitzkasten und knallte ihren Kopf munter auf das Dach. »Diese – hatschi! – Weite …!« schniefte sich Flagit Mut zu und versuchte, am Geschehen dort oben direkt mitzuwirken. Er kletterte über den Tisch und sprang auf die andere Seite, wobei er sich nicht sicher war, ob er vor Freude oder vor Angst schreien sollte. Alles war sehr viel realistischer, als er es jemals erwartet hätte, denn er hatte das Gefühl, praktisch unmittelbar am Ort des Geschehens zu sein.
»So viel Weite!« jauchzte er, während er pantomimisch darstellte, wie er durch das Dachfenster fiel und auf einem Dachbalken landete. Seine Sinne tauchten in das Geschehen ein, das sich dreihundert Meter über ihm abspielte, und seine Augen spähten durch die Augen eines Eindringlings, der über einen Balken kroch und sich dabei vorsichtig an überall herumhängenden Sandsäcke vorbeischlängeln mußte, die als Gegengewichte von Seilzügen oder sonstigen Vorrichtungen dienten. Unter ihm breitete sich die Schmiede aus.
Einen halben Kilometer weiter die Straße hinauf lief Schlacke Schmidt bereits das Wasser im Mund zusammen. Pawlow wäre auf die Reaktion seiner Speicheldrüse stolz gewesen, während der Schmied auf dem Weg zur Gaststätte Zum Rinnstein im Laufschritt die Innenstadt Cranachans durchquerte und nur noch an das erste Hexenhammerbier dachte. Sicher, der Rinnstein war nicht unbedingt die nobelste Herberge in Cranachan, doch hatte sie gegenüber den anderen zwei entscheidende Vorteile – erstens hatte sie nie geschlossen, und zweitens war das Unterhaltungsprogramm geradezu legendär; regelmäßig fanden dort die spektakulärsten Schlägereien diesseits des Talpa Berge statt. Kaum eine Nacht verging ohne eine durch Alkoholeinfluß entstandene Auseinandersetzung, die sich irgendwann zu einer totale Prügelorgie entwickelte, und genauso konnte man davon ausgehen, daß irgendwer aus einem völlig belanglosen Grund in der Herrentoilette ermordet wurde.
Doch urplötzlich verspürte Schlacke keinen Durst mehr, und alle Gedanken an einen entspannenden Krug Hexenhammer waren wie verflogen. Mit einem entsetzten Fluch schlug er sich auf die verrußte Stirn, machte exakt um hundertachtzig Grad kehrt und eilte in die Richtung zurück, aus der er gerade gekommen war, wobei er mit angsterfülltem Blick ständig über die kräftigen Schultern zurückspähte. Wie konnte er das nur vergessen haben? An jedem anderen Tag hätte ihm der Gedanke an das zweihändige Salamanca-Schwert entfallen können, aber warum mußte es ausgerechnet an dessen Liefertag sein? Mit einem Mörder bricht man keinen Vertrag, jedenfalls nicht lange; besonders dann nicht, wenn dieser gerade aus Fort Knumm angereist war, um die Lieferung persönlich entgegenzunehmen. Und erst recht nicht, wenn dieser bestimmte Mörder einige Stunden Zeit gehabt hatte, das legendäre Hexenhammer zu saufen, das für seine aufbrausende Wirkung bekannt war.
Da Schlacke so schnell gelaufen war wie schon seit zehn Jahren nicht mehr, entgingen ihm die beiden aufmerksamen Augen, die ihn aus einer Seitengasse heraus beobachteten. Ein verschlagenes Grinsen huschte über das Gesicht des neunjährigen Mädchens im roten Nachthemd, und erst nachdem es sich vergewissert hatte, von niemandem beobachtet zu werden, sauste es dem Schmied hinterher.
Etwa vierhundert Meter weiter die Straße hinunter schlängelte sich eine Kapuzengestalt über die schmalen Dachbalken und durch die überall herumhängenden Seile und Sandsäcke hindurch. Jeder Schritt wurde von weit, weit unten kontrolliert. Flagit schwankte nervös an der Tischkante entlang, schlängelte sich an Hanfseilen und Sandsäcken vorbei, bis er eine geeignete Stelle im dem von seiner Kristallprismenbrille angebotenen Blickfeld gefunden hatte. Leicht schwankend zog er einen Dolch, griff nach einem imaginären Seil, hielt sich daran fest und fluchte, als ihm ein reißendes Geräusch in die teuflischen Ohren drang.
Das war mal wieder typisch. Er übte die totale limbische Kontrolle über ein Gehirn aus, das zu einem übergewichtigen Körper gehörte! Merkwürdig nur, daß ihm das nicht schon früher aufgefallen
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