First Night - Der Vertrag (German Edition)
und sie bat, ihm zu folgen. Das ist ja wie im vorletzten Jahrhundert , dachte Julia, und da sah sie auch schon Frau Mahler an einem Tisch sitzen und zu ihnen herüberwinken.
Sie war in Begleitung eines vornehmen Mannes mit schneeweißem Haar, der einen schick gebundenen, weinroten Krawattenschal in seinem weißen Hemd trug. Er hatte ein sonnengebräuntes und zerfurchtes Gesicht und konnte auf den ersten Blick durchaus als Indiana Jones im Rentenalter durchgehen. Frau Mahler sah schon aus der Ferne absolut adrett gekleidet und pe rfekt frisiert aus. In dem Moment dachte Julia verunsichert: Ich hätte doch das schwarze Etuikleid anziehen sollen . Doch gleich danach dachte sie: Es kann mir doch egal sein, was Frau Mahler von mir denkt.
„Benimm dich bitte, Benni!“, sagte sie stattdessen laut und marschierte b eherzt dem Kellner hinterher.
Frau Mahler stand auf und begrüßte Julia mit einer herzlichen Umarmung, als würden sie sich schon seit Jahren kennen und wären die besten Freu ndinnen.
„Julia, ich freue mich riesig, dass Sie gekommen sind. Und wer bist du?“ Sie reichte Benni die Hand und der antwortete brav:
„Benjamin Dietrich und Julia ist nicht meine Mama!“
Er stellte das Fremden gegenüber immer sofort klar. Nicht, weil er sich nicht gewünscht hätte, dass Julia seine Mama wäre, sondern weil die Leute immer ziemlich doof auf Julia reagierten, wenn sie mit so einem großen Kind a nkam, und jeder dachte, sie wäre selbst erst achtzehn oder so. Benni tat das nur für Julia, aber manchmal dachte er, es wäre toll, wenn Julia seine Mama wäre und nicht die Frau, die er nie gekannt hatte, und die sich seinetwegen das Leben genommen hatte.
Das sagten die Erwachsenen natürlich nie direkt zu ihm. Sie taten immer ganz geheimnisvoll und dachten, er würde es gar nicht mitkriegen. Aber er wusste es ganz genau. Seine Mutter hatte sich umgebracht, weil er geboren worden war.
Der Mann mit den weißen Haaren reichte ihm und Julia nun die Hand und stellte sich als Walter Fröhlich vor und Benni fand ihn auch fröhlich. Sie beide verstanden sich auf Anhieb. Der Weißhaarige sprach Benni gleich auf sein Sweatshirt und auf Albert Einstein an und er hatte sogar ziemlich viel Ahnung von Einstein. Und von Leuten, die von Einstein eine Ahnung hatten, war Benni grundsätzlich beeindruckt. Julia und Frau Mahler hörten den beiden Männern lächelnd zu, wie sie sich über Physik und Einstein und Gott und die Welt unterhielten, und Julia war auf Benni mindestens genauso stolz wie Frau Mahler auf Walter stolz war.
„Komm, wir schauen uns mal das Kuchenbuffet an, Benni! Weißt du, dass es das größte Kuchenbuffet Europas ist?“, sagte Walter irgendwann und erhob sich von seinem Platz.
„Mit zwanzig verschiedenen Sorten Schokoladenkuchen“, ergänzte Benni und mit diesen Worten schlenderten die beiden Männer davon und Frau Mahler ergriff sofort das Wort.
„Benni ist ein erstaunlicher Junge. Mein Gott, wie alt ist er? Ich kann gar nicht glauben, dass Sie ihn ganz alleine großziehen.“
Julia antwortete brav und erzählte ein klein wenig von der Vorgeschichte. Vom Tod ihrer Schwester noch auf der Entbindungsstation – dass es ein Selbstmord gewesen war, verschwieg sie natürlich. Sie musste Frau Mahler ja nun wirklich nicht in Familientragödien einweihen, die sie nicht betrafen. Dann erzählte sie, wie ihre Mutter nach Bayern gezogen war, und versuchte dabei eine Frau zu schildern, die nach dem Tod ihrer Tochter und der Krankheit ihres Mannes doch noch einmal das Glück für sich gefunden hatte.
Ach ja, die Krankheit von Papa hätte sie Frau Mahler gegenüber besser nicht erwähnen sollen. Die überbordende Anteilnahme der Frau war ihr fast peinlich und deshalb spielte sie das dann so gut es ging herunter. Sie war doch nicht hergekommen, um der Mutter von Thomas irgendetwas über ihr Leben vorzuwinseln. Noch erbärmlicher ginge es ja wohl nicht. Aber warum hatte sie die Einladung denn sonst angenommen? Warum hatte sie sich dreimal umgezogen, wenn sie nicht wenigstens ein bisschen Eindruck auf Frau Mahler hätte machen wollen?
„Sie fragen sich sicher, warum ich Sie eingeladen habe?“, sagte Frau Ma hler, als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte.
Julia hatte ungefähr hundert Ideen, warum Frau Mahler sie eingeladen hatte und die naheliegendste war, weil sie ihr sagen wollte, dass sie ihre Finger gefälligst von ihrem Sohn lassen sollte, weil der bereits verheiratet war und allemal etwas Besseres kriegen
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