Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
Welche Lehren kann die heutige Gesellschaft daraus ziehen, da ihr doch alle moralischen und sozialen Werte abhandengekommen sind?
Was das Verlieren der Rennen angeht, Signore, wollte ich Ihnen sagen, dass ich einverstanden bin. Ich habe es sogar schon versucht, und Sie haben mir ja gesagt, dass Verlieren die einfachste Sache der Welt ist. Aber ich muss sagen, dass das für mich nicht stimmt. Denn wenn ich verliere, verlieren gleichzeitig eine Menge andere Leute, für die es mir leid tut, mehr als für mich. Aber einmal habe ich es versucht.
Im März – es war mein fünftes offizielles Rennen, und die anderen vier hatte ich alle gewonnen – sagten meine Teamkollegen schon, ich wäre rücksichtslos und hätte die Mannschaft verschlissen und ihre Eltern hätten ihnen gesagt, ich nehme irgendwelche Medikamente, um schneller zu fahren als alle anderen. Da dachte ich, es ist besser, es so zu machen wie in der Schule und nicht immer die Nummer eins zu sein, und deshalb wollte ich an dem Tag nicht gewinnen.
Ich bin also die ganze Zeit ganz ruhig im Hauptfeld geblieben. Fünf Kilometer vor dem Ziel gab es eine Spitzkehre, und einer aus dem Team Formaggi Antico Borgo, der Tenerani heißt, ist vorgeprescht und hat sich um ein paar Sekunden von den anderen abgesetzt.
Mir war gleich klar, dass wir den sofort einholen mussten, um ihn nicht erst auf der Ziellinie wiederzusehen, aber da ich ja verlieren wollte, bin ich in der Gruppe geblieben. Es waren nur noch vier, drei, zwei Kilometer bis ins Ziel, und ich konnte mir schon vorstellen, wie Signor Roberto die Fassung verlieren und uns anbrüllen und Schwachköpfe nennen würde. Auf dem letzten Kilometer habe ich dann sogar aufgehört, so zu tun, als würde ich mich anstrengen, Tenerani hatte ja eh schon gewonnen und konnte seinen Endspurt bis ins Ziel auskosten.
Gesehen habe ich ihn in dem Augenblick nicht, aber man hat mir nachher erzählt, dass er überglücklich war und in die Pedale trat und sich ab und zu umdrehte und jubelte, als er niemanden sah. Aber in der letzten Kurve stand sein Vater mit einem Eimer Wasser. Der dachte, ein ordentlicher Schwall kaltes Wasser würde Tenerani erfrischen, deshalb wartete er am Straßenrand auf ihn. Und als er dann kommt, schreit sein Vater WASSER! und kippt ihm den ganzen Eimer über den Kopf. Tenerani fliegt die Brille weg, er verliert das Gleichgewicht, und er bremst wahrscheinlich mit der vorderen Bremse scharf ab, denn das Vorderrad blockiert und das Fahrrad knallt gegen die Hauswand auf der anderen Straßenseite und geht kaputt.
Nach einer Weile kommen wir und sehen jede Menge Leute auf der Fahrbahn und Tenerani am Boden. Das Rennen ist also wieder offen. Alle sprinten los, jeder für sich, auch ich haue instinktiv in die Pedale und liege plötzlich in Führung, trete noch zweimal kräftig durch und sehe, dass ich die anderen abgehängt habe, gewinne also haushoch. Aber ich schwöre, dass ich die Arme nicht hochgerissen habe, denn dieses eine Mal wollte ich wirklich verlieren, und ich war auch ganz nah dran, und wenn ich dann doch gewonnen habe, ist es die Schuld von diesem dummen Vater.
Jedenfalls hatten Sie vorgestern recht, Signore, Verlieren ist eine prima Idee und könnte ein paar Probleme lösen. Und am Sonntag in Piacenza werde ich tatsächlich verlieren. Es ist das erste Mal, dass ich außerhalb der Toskana fahre. Signor Roberto hat letzte Nacht vor Anspannung nicht geschlafen und Taktiken entworfen, die er mir pausenlos eintrichtert, aber am Sonntag werde ich verlieren. Sie hatten recht, Signore. Ich danke Ihnen vielmals.
Und wenn Sie es erlauben, widme ich Ihnen diese Niederlage.
DIE KLEINEN FREUNDE DER PHILOSOPHEN
Du blätterst um, du bist schon auf Seite 176, obwohl du den Roman erst nach dem Mittagessen angefangen hast.
Noch nie hast du an einem einzigen Nachmittag so viel gelesen, und wenn du in diesem Tempo weitermachst, bist du zum Abendessen mit dem Buch fertig. Wenn du wirklich nur eine Hand hättest, wärst du die größte Leserin auf dem Erdball.
Ist ja auch logisch, du kannst ja sonst nichts tun. Um dir etwas zu essen zu machen, hast du eine Stunde gebraucht und dir zwei Finger verbrannt, und am Ende hat es gerade mal für Reis mit Tomatensoße gereicht. Hinterher hast du versucht, das Geschirr zu spülen, es aber schnell wieder aufgegeben, du hast versucht, das Bett zu machen, hast auch das aufgegeben, also hast du dich aufs Bett gelegt und angefangen zu lesen. Und bist jetzt auf Seite 176.
Und
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