Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
da hat sie zu mir gesagt Aber manchmal … manchmal ist das Leben nicht so einfach, Mirko. Das heißt, für dich schon, für dich ist alles supereinfach, aber für die anderen … Ich habe mit den Tränen gekämpft, sie umarmt und gesagt Entschuldige, tut mir leid, Mama . Und sie hat gesagt Aber wieso denn? Nicht doch, nein . Ich konnte nichts mehr sagen, weil ich sonst losgeheult und ihr erklärt hätte, dass auch für mich nicht alles einfach ist, Signore, überhaupt nicht einfach.«
Mirko spricht nicht weiter, er weicht meinem Blick aus und betrachtet sein Bein, das unter der Decke vorschaut. Dann legt er sich flach hin und zieht sich das Laken übers Gesicht. Ich habe mir seine Geschichte angehört und ihm zig Mal gesagt, dass er ein Idiot ist und Unsinn erzählt, aber irgendwie kann ich ihn verstehen. Und vielleicht verstehe ich jetzt auch ein bisschen seine Eltern, gerade so viel, dass sie mich nicht mehr anwidern.
Das ist der Grund, warum ich nie zu viel über Menschen erfahren will, die etwas Schlechtes getan haben. Denn sonst kann ich sie am Ende doch irgendwie verstehen und ärgere mich und fühle mich verloren, weil ich niemanden mehr habe, den ich hassen kann.
DREI MONATE SPÄTER
Alle diese Dinge sind im Mai passiert, und jetzt haben wir Ende Juli. Fast drei Monate sind vergangen, und die damals noch ferne Zukunft ist schon wieder Gegenwart.
Die Abiturprüfung zum Beispiel. Für Stefanino war es eine Zeit voller Angst und Bangen, für mich nicht, ich wurde nämlich gar nicht erst zugelassen. Eigentlich keine Überraschung, denn in der Schule hatte ich mich kaum noch blicken lassen, meine Leistungen waren miserabel, und ich habe mir nicht mal den Aushang mit den Endnoten angesehen. Ich bat Stefano, mir Bescheid zu geben, falls es sensationelle Neuigkeiten geben sollte. Es kam aber nichts.
Stefanino hatte in der Zwischenzeit beschlossen, mit den Papstfotos aufzuhören. Sie zierten bereits die Titelseiten der Zeitungen, und in den Fernsehnachrichten hieß es, der Heilige Vater sei beliebter als jemals zuvor. Stefanino fühlte sich plötzlich als Teil einer gigantischen Fälschungsmaschinerie. Er wollte einen Schlussstrich ziehen und nichts mehr davon wissen. Einen Monat lang fuhren hier in Muglione alle möglichen Geistlichen in Superluxuslimousinen vor, die den Auftrag hatten, ihn umzustimmen. Sogar der Bischof von Pisa wollte ihn sprechen, ein ausländischer Kardinal und andere Herren mit höchst seltsam klingenden Namen. Am Ende konnten sie ihn überreden, mit einem Batzen Geld, vor allem aber mit einer Audienz beim Papst, unvorstellbar. Das war Stefaninos Bedingung gewesen, von der er nicht abrückte. Und deshalb wird Stefanino einen ganzen Tag, ich glaube, es ist der zehnte September, beim Papst verbringen. Wirklich wahr, Stefanino besucht den Papst. Was er ihm immer schon mal sagen wollte, jetzt hat er die Gelegenheit dazu. Schon verrückt, aber im Leben passieren manchmal die absurdesten Dinge, die Gott allein erklären kann, sofern es ihn gibt.
Und um in der Welt des Absurden zu bleiben: Die Geschichte mit Tiziana geht weiter. Seit zwei Monaten sind wir nun zusammen, wenn man das so sagen kann. Ich stehe gerade in meiner Bude, die ich mit den lebenden Ködern teile, vor dem Spiegel und ordne mir die Haare, wir werden gleich zusammen ausgehen. Tiziana sagt, nur Proleten tragen lange Haare, folglich hat sie was übrig für Proleten, denn ich denke gar nicht dran, mir die Haare schneiden zu lassen.
An dem Tag, als Mirko aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kam Tiziana hierher, um ihn zu besuchen, und danach sind wir beide, sie und ich, Eis essen gegangen. Wir haben über alles Mögliche gesprochen, wenn auch über nichts Persönliches, doch am Ende haben wir uns geküsst. Ein Zungenkuss, und danach wollte ich wissen, was aus ihrem Vorsatz geworden ist, über uns nachzudenken.
Ja, ich habe nachgedacht, aber ich bin noch zu keinem Schluss gekommen. Also habe ich mir gesagt, lass das Nachdenken, vorerst zumindest.
Damit konnte ich zwar nichts anfangen, aber wir haben uns gleich noch mal geküsst, alles andere ist sowieso egal. Ich hab ihr sogar erzählt, dass ich mit den Kondomen geübt habe, dass es jetzt viel besser funktioniert und ich es ganz gut hinkriege. Tiziana war zwar beeindruckt, meinte aber, ich könne mir mit dem Üben Zeit lassen: Diesmal wolle sie alles in Ruhe angehen.
Na gut, okay, Gelassenheit ist zwar nicht gerade meine Stärke, aber die Geduld hat sich ausgezahlt, denn
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