Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
wegen des Trainings keine Sorgen zu machen braucht, weil er nach einem solchen Bruch wahrscheinlich nie wieder wird fahren können, aber auch das behalte ich für mich. Man muss nicht alles sagen, was wahr ist. Manchmal ist die Wahrheit abscheulich und hat es verdient, dass wir sie allein in einer Ecke stehen lassen, damit sie sich mal Gedanken darüber macht, was sie angerichtet hat.
»Signore, Verzeihung, darf ich Sie was fragen? Ich hab mir doch das Bein gebrochen. Kann es sein, dass ich, wenn ich wieder fahre, ein bisschen von meiner Kraft verloren habe?« Aber er stellt diese Frage so fröhlich und hoffnungsfroh, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden habe.
»Moment mal, wie meinst du das jetzt.«
»Also.« Dabei richtet er sich im Bett ein wenig auf. Er ist wie elektrisiert, ich verstehe diesen Kerl wirklich nicht. Er liegt mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus, weil sie ihn vor einem Friedhof verprügelt haben, aber er tut, als würden wir seinen Geburtstag feiern. »Denken Sie, es könnte sein, dass ich, wenn ich wieder Rad fahre, nicht mehr ganz so schnell bin?«
»Boh … keine Ahnung, woher soll ich das wissen. Leider kann das durchaus sein. Das muss man dann sehen.«
»Hoffen wir’s, Signore, hoffen wir’s wirklich.«
»Hoffen wir was? Dass du weniger schnell fährst als vorher?«
»Ja, ich hab darüber nachgedacht, und meiner Meinung nach ist es möglich. Ich glaube schon, dass ich danach langsamer bin und schwächer«, sagt er mit einem Grinsen, das sich bis zum Zahnfleisch ausbreitet.
»Hattest du nicht gesagt, dass du ab jetzt immer gewinnen willst?«
»Ja, doch, das stimmt. Ich hoffe zwar, dass ich schwächer werde, aber nicht so schwach wie die normalen Leute.«
Ich versuche zu verstehen, was der kleine Champion da gerade gesagt hat, weiß aber schon im Voraus, dass das aussichtslos ist. Dann öffnet sich die Tür hinter mir, ich drehe mich um, es ist Tiziana, und sie lächelt. Und ich schaue nur noch sie an, mein Kopf ist völlig leer.
EINE SCHWEDISCHE FAMILIE
Hallo, guten Tag, freut mich, Sie kennenzulernen. Roberto Marelli konnte leider nicht kommen. Er musste nach Mailand zu einem wichtigen Treffen der italienischen Teammanager, die sich für einen sauberen Sport einsetzen. Morgen wird er wieder da sein. Ich bin sein Sohn, und da ich für die Mannschaft mitverantwortlich bin, hat er mich gebeten, mich um Mirko zu kümmern und alles zu tun, was in diesem Moment notwendig ist.
Das ist die Geschichte, die ich Mirkos Eltern vor dessen Zimmer auf dem Gang der orthopädischen Abteilung des Krankenhauses aufgetischt habe. Sie nickten und starrten müde vor sich hin. Es roch nach Krankenhaus, einer Mischung aus Desinfektionsmittel und gekochten Kartoffeln. Für den Fall, dass sie nachfragen würden, hatte ich mir einige Details zurechtgelegt und sogar ein paar Notizen gemacht, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Sie stellten keine Fragen, sie waren nicht neugierig, vielleicht hätte ich ihnen ebenso gut die Wahrheit sagen können: Dass es keine gute Idee wäre, meinen Vater zu treffen, einen verwahrlosten, reichlich betrunkenen Mann, der seit anderthalb Tagen am Kanal neben einer Mülldeponie hauste, weshalb ich mich um ihren Sohn kümmern musste, den ich bis gestern gehasst hatte wie niemanden sonst auf der Welt. Ich, der ich alles darangesetzt hatte, dass er in der Schule durchfällt und alle Rennen verliert.
Nein, ich hätte ihnen auf keinen Fall sagen können, wie es wirklich steht. Aber sie machten keine Schwierigkeiten, sie sagten keinen Ton und hörten mir ganz ruhig zu. Zu ruhig, wenn ich das sagen darf. Also, meiner Meinung nach wirkten sie nicht besonders betroffen. Sie sind zu Mirko ins Zimmer gegangen, haben ihn begrüßt und umarmt, aber dermaßen steif und hölzern, wie ich es nicht mal einer schwedischen Familie bei der Begrüßung ihres Cousins zweiten Grades zutrauen würde.
Ich habe sie von der Tür aus beobachtet und mir vorgestellt, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich mit gerade mal fünfzehn Jahren monatelang von zu Hause weg gewesen wäre und meine Mutter mich besucht hätte. Freudenschreie, Tränen, Umarmungen und wieder Tränen und Umarmungen. Hier dagegen zeigte selbst der Arzt mehr Gefühle, ein Radamateur, der vor dem Mittagessen zur Visite kam. Er überhäufte Mirko mit Komplimenten und wollte von ihm wissen, ob es stimmt, dass er einmal, beim Endspurt, ein Rad verloren hat und die letzten zweihundert Meter bis zum Ziel auf dem
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