Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
selbstverständlich kann man von einem Hochzeitstag sprechen. Ein Datum ist ein Datum, auch wenn die Person nicht mehr da ist, die man beglückwünschen und der man etwas schenken möchte oder die sich ärgert, weil du es auch dieses Jahr wieder vergessen hast, oder die … Na gut, nein, vielleicht kann man doch nicht von einem Hochzeitstag sprechen.
Es ist jedenfalls normal, dass Roberto heute, da ihr Hochzeitstag wäre , daran denkt. Zum Beispiel daran, dass er in den zwanzig Jahren ihres Zusammenlebens seine Frau nie gefragt hat, warum sie an jenem Tag statt der Schuhe Frotteesocken trug. Das sind so Sachen, die man mit der Zeit einfach vergisst oder die einem ab und zu durch den Kopf gehen, aber dann zuckt man mit den Schultern und sagt Ach, egal, irgendwann frag ich sie mal . Und dann ist es plötzlich zu spät.
»Leichten Gang fahren, Jungs, Beine locker halten!«, brüllt er ins Megafon. Er zieht eine Grimasse und rutscht auf seinem Sitz hinterm Steuer in eine andere Position. Verdammte Hämorrhoiden. Das viele Autofahren hat zur Fitness anderer beigetragen, er selbst ist dabei abgeschlafft. Für einen, der auf die fünfzig zugeht, ist er zwar immer noch recht fit, aber ab und zu brennt es im Hintern, und er hat dieses harte, vorstehende Bäuchlein bekommen, das mit dem Rest des Körpers scheinbar nichts zu tun hat. Der Bauch sieht künstlich aus, schon fast lächerlich. Ist aber nicht künstlich, und Roberto findet ihn auch überhaupt nicht lustig. Ein sogenannter Fernfahrerbauch, sein Vater hatte auch einen, aber der fuhr tatsächlich Lkws. Als Jugendlicher hatte Roberto gehofft, es liege am Beruf, und schwor sich Lieber radle ich zweihundert Kilometer am Tag und trinke in meinem ganzen Leben kein einziges Bier . Aber so was denkt man mit zwanzig, da weiß man noch nicht, dass man irgendwann in ein Alter kommt, in dem die Dinge ihren Lauf nehmen und du sagst Na gut, so ist es nun mal , und versuchst zu retten, was zu retten ist.
Roberto rutscht auf seinem Hintern herum, ein stechender Schmerz fährt ihm von dort direkt ins Hirn. Er drückt versehentlich die Hupe, die Jungs drehen sich um und beschleunigen.
»Nein, ganz ruhig, war falscher Alarm. Ich hab gesagt, langsam!«
Die Jungs folgen ihm aufs Wort. Sie machen ihm viel Freude. Mit acht Jahren geht’s los, in der Klasse der Jüngsten, Jungs und Mädels zusammen. Wenn man sie das erste Mal auf ein Rennrad setzt, sieht es irgendwie unstimmig aus, wie zwei Teile eines Puzzles, die partout nicht zusammenpassen wollen. Sie sind entweder zu dick oder zu dünn, zu kurz oder zu lang, plump und unbeholfen.
Aber dann zeigst du ihnen, wie man im Sattel sitzt, wie man anständig in die Pedale tritt, die Hände unten auf dem Lenker und der Oberkörper parallel zur Straße. Sieh dir jetzt mal diese sechs Jungs vor deiner Kühlerhaube an, was die hermachen. Sie sind fünfzehn, sechzehn Jahre alt, Altersklasse Jugend, und schon mit ihrem Rad verwachsen. Eine Augenweide.
Mirko aber, hier am Ende der Gruppe, ist eine Kategorie für sich. Roberto hat ihn vor fünf Monaten zum ersten Mal auf ein Rennrad gesetzt, und es sah sofort so aus, als hätte der Junge sein Leben lang nichts anderes gemacht. Lange Beine, dünne Arme, kurzer Oberkörper, aber breite Schultern. Eine fabelhafte Kraftmaschine.
Er hat einfach das, was man Größe nennt, und wahre Größe erkennt man auf Anhieb. Hier vor der Kühlerhaube sind sechs Jungs, die alle im selben Gang und mit derselben mäßigen Geschwindigkeit ihr Training zu Ende fahren, aber einer von ihnen ist etwas ganz Besonderes. Um das zu erkennen, braucht man keine biomechanischen Tests oder Leistungsdiagnosen, man sieht es mit bloßem Auge.
»Jungs, Massimiliano verlässt euch. Ciao Massi, morgen um eins vor dem Vereinslokal.«
Massimiliano nickt mit Kopf und Helm, dann löst er einen Schuh vom Pedal und bleibt vor dem Tor zu seinem Haus stehen. Die Gruppe fährt weiter.
Früher endete das Training vor dem Vereinslokal, jetzt fährt Robertos Begleitfahrzeug von Haus zu Haus, eine Art Schulbus des Radsports, das ist für die Jungs und ihre Eltern praktischer.
Man muss ihnen ein bisschen entgegenkommen, den Familien. Denn bei dem mörderischen Autoverkehr heutzutage, den Schauermärchen von gedopten Kindern und den dämlichen Visagen der Fußballer, die in den Medien als Helden hochgejubelt werden, ziehen es die Eltern vor, ihren Sprössling mit dem Geländewagen zum Fußballplatz zu kutschieren. Und den paar Verrückten, die
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