Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
nicht mehr.
Ich habe gesagt, ich werde ihm helfen, und das meine ich ernst. Ab Montag helfe ich dem kleinen Champion aus dem Molise, sich auf die Prüfung vorzubereiten. Hätte mir das jemand vor einer Stunde gesagt, hätte ich ihn für verrückt erklärt und den halben Tag darüber gelacht. Und jetzt ist es tatsächlich so. Mein Vater hat mich überzeugt.
Aber so bescheuert bin ich auch wieder nicht, das ist hoffentlich klar. Natürlich hat nicht dieses Gefasel gezogen von wegen Fiorenzo, du bist so tüchtig und so intelligent, nur du kannst ihn retten …
Also bitte. Ich bin zwar dumm, aber auch meine Dummheit hat ihre Grenzen. Viel besser hat mir das andere gefallen, was mein Vater gesagt hat. Wie war das noch? Ja genau …
Wenn er sitzenbleibt, ist der Teufel los. Wenn er die Schule nicht schafft, muss er womöglich zurück zu seiner Familie ins Molise .
Wenn er durchfällt, Fiorenzo, ist alles aus, alles.
EINE ART HOCHZEITSTAG
»Ich bin aus der Toskana.«
»Das hört man«, sagt sie und lächelt. Als wollte sie sagen, schön, dass man es hört. »Aus Florenz?«
»Nein, aus Muglione.«
»Nie gehört, Pardon.«
»Ist nur ein kleiner Ort. Aber ganz nett, irgendwie. Manches nicht, aber doch, irgendwie schon nett.«
»Und in Muglione gibt es die toskanischen Hügel?«
»Nein, oder vielmehr ja … Es ist eigenartig. Die Landschaft ist flach, aber an einer Stelle kommen vier Hügel hoch, praktisch aus dem Nichts. Optimal zum Trainieren. Wenn es einen Radsport-Gott gibt, hat er die da hingesetzt.«
»Und du meinst, es gibt einen Radsport-Gott?«
»Für mich schon.«
»Dann bist du Polytheist.«
»…«
Roberto Marelli zögert. Er war drauf und dran, Ja zu sagen, aber das Wort Polytheist verunsichert ihn, und jetzt steht er unschlüssig da, mit schiefem Kopf und einem dämlichen Grinsen.
Bologna, 30. September 1989. Der Giro dell’Emilia ist gerade zu Ende gegangen. Eine Zwölfergruppe hat das Rennen bestritten, Roberto war unter ihnen, aber am Ende hat ein sowjetischer Fahrer gewonnen, er selbst kam auf Platz zwölf. Und jetzt redet er mit diesem dunkelhaarigen, braungebrannten Mädchen im leichten grünen Kleid und mit weißen Frotteesocken statt Schuhen.
Roberto ist ein schneller Sprinter, einen weniger langen Endspurt hätte er auch gewinnen können. Seit ein paar Monaten unterzieht er sich außerdem der »Spezialbehandlung« durch den Arzt, er trainiert jetzt noch öfter und schluckt alles, was man ihm gibt. Aber auf den letzten Kilometern, am Monte San Luca, haben seine Beine nicht mehr mithalten können. Roberto machen die steilen und die langen Anstiege zu schaffen, der Wind und die plötzlichen Tempowechsel. Kurzum, es gibt immer einen triftigen Grund dafür, dass er nicht gewinnt.
Er ist aber ein guter Wasserträger und verhilft anderen zum Sieg. Einmal hat ihn das Fernsehen gefilmt, und in der Sendung war viel von ihm die Rede, weil er vom Begleitfahrzeug zwölf Trinkflaschen auf einmal übernommen hat und dem Feld nachgefahren ist, um sie seinen Mannschaftskameraden zu bringen. Er steckte sie sich in die Rückentaschen, unters T-Shirt, hinter die Hosenträger. Zwölf Trinkflaschen auf einmal. Seitdem nennen sie ihn den Barman. Nicht gerade ein toller Spitzname, aber immer noch besser als gar keiner. Ohne Spitznamen bist du in der Gruppe ein Niemand. Aber jetzt hofft Roberto, dass dieses Mädchen mit den Frotteesocken nicht weiß, dass er der Barman ist. So wie er nicht weiß, was Polytheist bedeutet.
Am Abend fragt er den Mannschaftsarzt, der ihm erklärt, ein Polytheist glaube an viele Götter, nicht nur an einen. Roberto ist froh, dass es keine Beleidigung war, er ruft das Mädchen mit den Frotteesocken öfter an, sie heiraten und leben in dem Dorf, das der Radsport-Gott erbaut hat. Sofern es diesen Gott gibt.
Zwanzig Jahre sind seither vergangen, und heute glaubt Roberto an überhaupt keinen Gott mehr. An keinen einzigen. Denn wenn eine dreiundvierzigjährige Frau am Bankschalter in der Schlange steht und plötzlich umkippt und stirbt … Könnte so etwas geschehen, wenn es viele Götter gäbe, die alles im Griff haben? Ganz sicher nicht. Schon wenn es einen einzigen gäbe, würde es nicht geschehen. Aber so …
Heute fährt Roberto das Begleitfahrzeug, und er muss ständig an jenen Tag vor zwanzig Jahren denken. Heute ist nämlich ihr Hochzeitstag. Sofern man überhaupt von Hochzeitstag sprechen kann, wenn einer von beiden nicht mehr lebt.
Aber klar doch,
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