Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
sich heute noch dazu durchringen, ihr Kind auf ein Rennrad zu setzen, muss man möglichst entgegenkommen.
»Jungs, langsamer jetzt. Cristiano, fahr links rüber, du bist dran.«
Gleich kommt nämlich die Villa Berardi, wo er wohnt. Sie nehmen eine Abzweigung von der Hauptstraße, und nach zwei Minuten wird es ruhig. Im Schatten der hohen, akkurat geschnittenen Hecke längs der Straße wirkt alles grüner und weniger staubig. Wenn es heutzutage kaum noch Eltern gibt, die ihren Sohn Radrennen fahren lassen, dann ist es geradezu phänomenal, dass eine reiche Familie wie die Berardis dies tut. Denn Rennfahrer kommen immer aus armen Familien. Den ersten Giro d’Italia hat ein Maurer gewonnen, die erste Tour de France ein Kaminkehrer, gefolgt von einer langen Reihe verschwitzter Schmiede und Bäcker, Holzfäller und Bauern. Einen wesentlichen Anteil am Aufstieg einer Radsportlegende hat der Hunger.
Cristianino ist ein sympathischer, tüchtiger Junge und nebenbei auch noch der Sohn eines wichtigen Sponsors. Aber bald wird er die Mädchen und die Discos entdecken, und dann ist es vorbei mit den Radrennen.
»Cristiano verlässt euch. Denk dran, morgen bitte pünktlich, nicht wie letztes Mal.«
Es geht wieder weiter. Mirko ist nach wie vor der Letzte, er sitzt fast auf der Kühlerhaube des Begleitfahrzeugs, den Kopf gesenkt. Er hat die Hand zum Gruß gehoben, dann tritt er weiter in die Pedale. Vier Monate lang ist auch er hier vor der Villa Berardi abgestiegen, aber Cristiano will ihn hier nicht mehr haben. Mirko hätte ihm das Fahrrad nachwerfen, ihm wenigstens Leck mich am Arsch nachrufen oder ihm ins Gesicht spucken können. Nichts dergleichen, er grüßt ihn zum Abschied. Tja.
Doch gleich hinter dem Tor, hinter der Kurve, die zur Hauptstraße zurückführt, versperrt ein Auto ihnen den Weg. Ein schwarzer Fiat Multipla mit einem riesigen Totenkopf auf der weit aufgerissenen Hecktür. Die Jungs auf den Rädern kommen daran vorbei, das Begleitfahrzeug nicht. Roberto hupt und legt sich schon ein paar Flüche zurecht. Hinter dem Multipla taucht ein Fettkloß mit nacktem Oberkörper auf, vielleicht achtzehn Jahre alt und zwei Meter groß. Dann noch ein Junge, der ältere Sohn der Berardis. Und dann sein eigener Sohn, Fiorenzo. Sie tragen Kartons, Instrumentenkoffer, meterlange Kabel. Plötzlich fällt Roberto wieder ein, was er seinem Sohn heute früh im Laden versprochen hatte: Um drei bin ich da! Er schaut runter auf das Armaturenbrett, 16.07 Uhr. Mist.
Der Dicke schließt die Hecktür des Multipla, Roberto fährt wieder an, und sein Blick trifft den seines Sohnes. Er hupt, Fiorenzo nickt und lädt weiter ein. Roberto schaut kurz in den Rückspiegel, aber nur ganz kurz.
Denn gleich sind sie wieder auf der Hauptstraße, und dann wird es heikel. Der Asphalt ist voller Schlaglöcher wegen der schweren Lkws, die in dichter Folge und in einem Affenzahn vorbeirasen. Am Straßenrand reihen sich Kreuze, Blumen und Bilder. Die Katzen, die hier jedes Jahr überfahren werden, muss man nach Zentnern berechnen. Um zu sterben, brauchen sie nicht einmal die Straße zu überqueren: Die Lkws donnern so schnell vorbei, dass der Sog die Tiere von den Fenstersimsen reißt.
»Jungs, Mikhail ist dran.«
Dann ist Emanuele dran, schließlich Martin.
Zuletzt bleibt nur noch Mirko übrig, der kleine Champion aus dem Molise.
Eine Rechtskurve, und die Straße verengt sich zwischen leer stehenden Häusern, Geschäften, die monatlich ihren Namen wechseln, und einer Menge unvermieteter Ladenflächen. Sogar am Schaufenster einer Immobilienagentur steht ZU VERMIETEN. Und weiter vorn der ehemalige Lagerschuppen, in dem jetzt die Jugendinfo untergebracht ist. Davor sitzen etliche sonnenhungrige Alte.
»Mirko, streng dich an, los, die Fans wollen auf ihre Kosten kommen!«
Mirko steigt mechanisch aus dem Sattel, senkt den Kopf und gleitet nahtlos und ohne große Anstrengung von zwanzig auf vierzig Stundenkilometer. Roberto wird aus dem Staunen nie herauskommen.
Er fängt an zu hupen, die Alten drehen sich um und sehen den kleinen Champion kommen, stellen sich entlang des Gehsteigs auf und heben die Arme: »Bravo, kleiner Champion! Fahr zu, mach sie alle fertig, heiz ihnen ein! Hopp hopp hopp, gib Gas!«
Der Champion zieht vorbei und hinter ihm Signor Roberto im Begleitwagen. Die Alten schauen ihnen nach, bis sie hinter der Tankstelle verschwunden sind.
Dann setzen sie sich wieder an ihre Tische, die sie heute der Sonne wegen ins Freie gestellt
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