Fischer, wie tief ist das Wasser
Arme und Beine und den Rest ihres Körpers spüren und nicht nur den Kopf, den Kopf, den Kopf.
Heute war es nicht so schlimm. Vor dem Haus war der Boden matschig, da es die ganze Nacht geregnet hatte, doch dafür war die Luft wie gewaschen. Vielleicht hatte frische Luft die Kopfschmerzen weggepustet.
«Hast du heute gute Laune?», fragte Dirk van Looden, als sie wieder zu den anderen in den Garten gekommen war und sich, ohne eine Miene zu verziehen, am Spiel beteiligte. Dirk war groß und kräftig, seine roten Haare standen borstig zu Berge und er begann schon bei der kleinsten Anstrengung ganz schlimm zu schwitzen. Sein Schädel glänzte dann ebenso rot wie sein Haar und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines friesischen Zuchtbullen.
Henk Andreesen stand mit dem Rücken an der Hauswand, die anderen versammelten sich gut fünfzig Meter weiter am Ende des Gartenweges.
«Fischer, wie tief ist das Wasser?», riefen sie im Chor.
Normalerweise beobachtete sie die anderen nur dabei. Gesa machte sich nichts aus Kinderspielen. Was machte es für einen Sinn, wenn einer der Fischer war und allein einer großen Horde Kinder gegenüberstand? Dann wurde er von denen gefragt, wie tief denn das Wasser sei, und er musste sich irgendeine witzige Zahl ausdenken. Neunundneunzig Komma neun Meter oder etwas ähnlich Schwachsinniges. Und wenn die anderen dann fragten, wie man über das Wasser kommen könne, dann musste er wieder witzig sein, der Fischer. Haha, macht mal alle Roboter nach oder Krokodile oder Kängurus. Und allemachten es. Sie liefen oder krochen oder hüpften ihrem Fischer entgegen und der musste sie alle fangen, wen er berührt hatte, der war bei der nächsten Runde mit in seinem Team. Und so weiter. Bis einer übrig blieb. Und der war dann beim nächsten Spiel der Fischer. Und musste witzig sein.
Gesa war nicht gern witzig. Trotzdem spielte sie heute mit. Schließlich war sie ein Kind und Kinder mussten spielen, wenn sie den Erwachsenen gefallen wollten. Und das wollte Gesa. Das war wichtig. Vielleicht das Wichtigste auf der Welt.
«Fischer, wie tief ist das Wasser?»
Heute und in diesem Moment war Henk der Fischer, er rief mit seiner dünnen Stimme: «Acht Kilometer tief!»
«Wie kommen wir rüber?», fragten die Beutetiere, die Herde, die von Mal zu Mal kleiner werden würde.
«Ihr seid … ihr seid Riesenkraken!», antwortete Henk und Gesa merkte, wie gespannt und aufmerksam er die Gruppe gegenüber anschaute. Er wollte sie kriegen. Er wollte ein guter Fischer sein und mit einer großen Beute in die nächste Runde starten.
Ein lächerliches, ein sterbenslangweiliges Spiel, fand Gesa, außerdem gab es am Ende immer Streit.
Dirk war eine Riesenkrake, er wirbelte seine ohnehin viel zu langen Arme hin und her und glotzte groß und idiotisch vor sich hin, aber er rannte, als ginge es um Leben oder Tod. Henk wollte ihn kriegen und erst sah es aus, als hätte er keine Chance dazu, doch dann berührte er Dirks Schulter nur leicht mit den Fingerspitzen, und das genügte. Der Fisch zappelte im Netz. Henk war verbissen, ein Beutetier reichte ihm nicht, kurz peilte er Gesa an, die sich keine Mühe gab, eine Riesenkrake zu sein, sondern behände und flink wie ein Stichling vom einen zum anderen Ufer wechselte. Henk traute sich nicht, sie zu verfolgen, er nahm sich die Langsamen vor, die lahmen Tiere solltenihm ins Netz gehen. Ingo Palmer mit seinem hässlichen Klumpfuß, es war keine Kunst, ihn zu bekommen. Doch alle anderen hatten es geschafft, standen am sicheren Ufer, berührten die warme Hausmauer.
Henk war nicht ganz zufrieden, er blickte schlecht gelaunt auf Ingo Palmer, der sich seinen Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb, da er auf dem aufgeweichten Boden ausgerutscht war. Er war nur eine halbe Portion, ein Genie im Deutschunterricht und der Liebling von Jochen Redenius, aber kein ernst zu nehmender Gegner.
Dirk war für Henks Mannschaft schon eher ein Gewinn. Denn auch wenn Dirk grob und ein wenig schlicht zwischen den anderen Kindern wirkte, wenn einer hier bei Liekedeler das Sagen hatte, dann war er es. Nicht zuletzt, weil seine Eltern stinkreich waren und in der Gegend hier einen großen Einfluss hatten. Den van Loodens gehörte eine große Baumarktkette, es war eine dieser Erfolgsgeschichten, die jeder kannte. Dirks Großvater hatte mit einem winzigen Eisenwarenhandel begonnen, inzwischen stand in jeder größeren Stadt ein «LoodenBau-Markt» und täglich waren in der Zeitung große Werbebroschüren
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