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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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nicht, denn hier im Haus hat ihn noch nicht ein einziger Mensch in den Arm genommen und getröstet. Er steht allein da mit Schuldgefühlen, die viel, viel größer sind, als es für ein Kind seines Alters gesund sein könnte. Und Ihr einziger Gedanke ist, ob er in einem kleinen Rollenspielchen den glücklichen Jungen von der Insel mimt. Sie sollten sich schämen!»
    «Das tue ich auch», sagte ich leise. Frau Andreesen sollte es eigentlich überhören, doch sie ließ den Türgriff wieder los und trat dicht an mich heran.
    «Was sagen Sie da?»
    Ich flüsterte weiter, denn ich hatte Angst, die Wände könnten unser Gespräch in eines der Nebenzimmer übertragen. «Ich weiß genau, was Sie meinen. Und wenn es nach mir gegangen wäre, dann würden wir Henk erst einmal eine Weile zur Ruhe kommen lassen.» Es war verdammt unprofessionell, was ich in diesem Moment von mir gab, doch ich hatte ein grauenhaftes Gefühl im Bauch und ich wollte irgendwie klarstellen, dass ich nicht der Mensch war, der ein Kind auf Teufel komm raus vermarkten wollte. «Ich habe genau diesen Punkt bereits in einer Mitarbeiterkonferenz angesprochen und habe mir auf diese Weise einen rüden Dämpfer eingehandelt.»
    Malin Andreesen war nicht die Frau, der ich mich unbedingt anvertrauen wollte, sie war mir ja noch nicht einmal sympathisch.Doch wir hatten dieselben Gedanken, sie hatte mit ihren Vorwürfen genau den Punkt getroffen, der seit einigen Tagen mein Idealbild von Liekedeler entstellte.
    «Henk hatte Probleme mit einer Mitschülerin, er fühlte sich bedroht, und wenn Sie mich fragen, auch zu Recht. Als ich vor zwei Tagen das Gespräch auf diesen Punkt brachte, wurde ich in meine Grenzen verwiesen. Kompetenzüberschreitung wurde mir vorgeworfen.»
    Malin Andreesen schüttelte ungläubig den Kopf. «Weil Sie sich die Sorgen eines Kindes zu Herzen genommen haben?»
    «Ja», sagte ich und suchte in meinem Kopf nach Gründen, die man mir genannt hatte, um die Kritik an meinem Vorgehen zu untermauern. Mir fiel auf, dass es keine wirklichen Erklärungen gab, es sei denn, man gab sich mit Wörtern wie Konzept, Psychologie und Pädagogik zufrieden.
    «Wie war doch gleich Ihr Name?», fragte Malin Andreesen kalt.
    «Okka Leverenz, ich bin keine Pädagogin, wissen Sie, ich arbeite seit gut vier Wochen in der P R-Abteilung , mehr nicht.» Natürlich war es lachhaft, wie ich ganz hilflos die Hände in die Höhe streckte, um überzeugend meine Unschuld zu beteuern.
    Henks Mutter lachte auf und ich starrte auf die dünnen Raucherzähne. «Und ich dachte schon,
ich
wäre eine Versagerin, was den Umgang mit Kindern angeht. Aber
Sie
, liebe Frau Leverenz, setzen der Feigheit noch die Krone auf. Mein Sohn kommt zu Ihnen, weil er Ihnen vertraut, und Sie stoßen ihn fort, weil Sie sonst Ihre Kompetenzen überschreiten könnten.»
    Sie drehte sich um und ihr violettes Kleid schwang um die mageren Beine, als sie das Büro nun endgültig verließ und mich mit einem Vakuum im Kopf zurückließ.
    Alles, was überhaupt noch in mir lebendig zu sein schien, war die Gewissheit: Ich hatte versagt.
    Es war überhaupt nicht schlimm, dass sie dem Fernsehteam die kalte Schulter zeigte und ich mich nun nach einem anderen Kind umschauen musste, nein, das war es nicht. Denn ich fand es mehr als richtig, den armen, verwirrten Henk nicht mit dieser Aktion zu belasten.
    Ich hatte woanders versagt: Sie hatte Recht, wenn sie sagte, dass ich feige und unfähig war. Was hatte mich in Gottes Namen dazu gebracht, eine kleine, Hilfe suchende Hand abzuschütteln?
    Die Antwort war erbärmlich.
    Ich ging hinaus, um Henk zu suchen. Ich wollte etwas wieder gutmachen. Von nun an würde ich mich sicher an seine Seite stellen, egal, was Redenius, Dr.   Schewe und auch Sjard Dieken dazu sagten.
    Doch Henk war nicht mehr da.
     
    Es gab viele Gründe für mich, am nächsten Vormittag in die Stadt zu fahren. In meinem Kühlschrank herrschte noch immer gähnende Leere und auch sonst fehlte es in meinen eigenen vier Wänden noch an vielen Dingen, die ich zum Wohlfühlen brauchte. Doch in erster Linie wollte ich endlich meinen Vater besuchen. Soweit ich wusste, stand schon Anfang nächster Woche seine nächste Reise auf dem Terminkalender, und ich wollte, nein, ich musste vorher ein paar Worte mit ihm wechseln.
    Der Duft nach Haarspray aus dem Friseursalon im unteren Stockwerk des Hauses stieg mir vertraut in die Nase, konnte jedoch meinem Herzklopfen, das mich schon auf dem Weg dorthin überrumpelt

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