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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Handtasche lag die E C-Karte , mit der sie genug Geld holen konnte, um sich ein einfaches Flugticket ans andere Ende der Welt zu lösen. Was würde sie hier denn schon zurücklassen?
    Natürlich war es eine alberne Gedankenspielerei, natürlich würde sie hier bleiben.
    Sie wusste, dass sie fast jede Frage beantworten konnte, da sie noch nie in ihrem Leben gedankenlos und fahrlässig gehandelt hatte. Alles, was sie aufgebaut, was sie vorangetrieben hatte, war Teil eines Plans und das Ziel, das zu erreichen gar nicht mehr lange dauern würde, war das Beste an diesem Plan. All die Kinder bei Liekedeler würden ihr eines Tages dankbar sein, dass sie ihnen die Welt geschenkt hatte. Heute besuchten dreihundertzwölfKinder die Einrichtung, Veronika Schewe kannte diese Zahl genau. Hier in Norden war eines der kleineren Häuser, in Emden und Leer besuchten bereits über dreißig Kinder die Einrichtung. Es würden immer mehr werden. Immer mehr Kinder, die die Möglichkeit bekamen, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. War das nicht ein wunderbares Ziel? Sie wünschte, ihr hätte man damals eine solche Chance gegeben.
    Sie öffnete die Autotür, doch bevor sie einstieg, zögerte sie kurz. Es waren nicht dreihundertzwölf Kinder. Es waren nur dreihundertelf. Jolanda Pietrowska war gestorben. Sie war ein Opfer, das hingenommen werden musste auf dem geraden Weg zum Ziel.
    Es würde Fragen geben. Sie würde sie beantworten.
    Dr.   Veronika Schewe setzte sich in ihren Wagen und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
    Notfalls gab es ja immer noch das Institut in Hannover. Sicher würde man sie dort vor den allzu schwierigen Fragen zu schützen wissen.
    Sie ließ den Motor an und fuhr nach Hause. Und morgen wollte sie wiederkommen. Übermorgen auch. Jeden Tag ihres Lebens wollte sie wiederkommen.

5.
    Zwei Plätze blieben leer.
    Dort, wo Henk Andreesen und Jolanda Pietrowska noch vor ein paar Tagen gesessen hatten, waren die Stühle beinahe vorwurfsvoll fortgeräumt worden.
    Eine Woche war Jolanda nun schon tot. Ein Begräbnis hatte es noch nicht gegeben, es gäbe noch einige Unklarheiten über die Todesursache, hatte die Mutter mir erzählt, als sie kam, um Jolandas Sachen zu holen. Es war schlimm, doch trotzdem ging hier alles nach einigen bedrückten, stillen Tagen wieder seinen gewohnten Gang.
    Das gemeinsame Mittagessen war eine Verpflichtung, niemand durfte fehlen. Ich fand es ehrlich gesagt etwas übertrieben, eine solch unumstößliche Regel um eine Mahlzeit zu machen, doch außer mir schien sich niemand daran zu stören. Gut, ich war es auch nicht gewohnt, in meiner Kindheit hatte es keinen gedeckten Tisch oder feste Essenszeiten gegeben.
    Es wurde viel Wert auf frische, vollwertige Kost gelegt, weder ich noch die meisten Kinder hatten sich je so gesund ernährt wie hier. Natürlich lachten die Kinder laut, sprachen oft wild durcheinander, alberten herum, doch es herrschten angenehme Sitten im großen, hellen Speisesaal: Man wartete mit dem Essen, bis jeder seinen Teller gefüllt hatte, und man stand erst auf, wenn der Letzte fertig war.
    Sjard Dieken hatte sich neben mich gesetzt. Es war eigentlich der Platz von Robert Lindkrug, doch er sagte nur kurz: «Du hast doch nichts dagegen», und ich konnte nicht sagen, ob es mir oder Lindkrug gegolten hatte und ob es eine Frage oder eine Feststellung gewesen war. Als er mir die Salatschüsselreichte, zwinkerte er mir zu und flüsterte: «Alles klar, Frau Leverenz. Ich habe die Sache mit Gesas kleinen Intrigen aufgeklärt. Ich denke, jetzt haben Sie ein Problem weniger.»
    «Das war ja schnell. Danke», flüsterte ich lächelnd zurück, obwohl ich nicht glauben mochte, meine unguten Gefühle auf diese Weise loszuwerden.
    Doch tatsächlich schienen mir die anderen freundlicher zu begegnen. Natürlich war es nur leicht verdauliche Konversation, die über den blau-weiß karierten Tischdecken stattfand. Doch die unverbindliche Plauderei tat gut. Ich unterhielt mich mit Silvia Mühring über italienische Schuhmode, dann fragte mich Robert Lindkrug nach meinem Sternzeichen. Redenius saß zwar auch immer noch kühl und ironisch lächelnd mit am Tisch, doch ich beschloss, ihn nicht weiter zu beachten. Der neue Frieden war mir noch nicht ganz geheuer, trotzdem gab ich mir einen Ruck, die Behaglichkeit einfach zu genießen. Schließlich blieben wir sogar eine Weile sitzen und tranken einen Kaffee miteinander, von dem ich immer noch fand, dass er würziger und besser schmeckte als jemals

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