Fischer, wie tief ist das Wasser
umstimmen ließ.
Ich hatte es mir gedacht. Ich hatte Dr. Schewe gestern mit Nachdruck darum gebeten, dieses Gespräch zu vertagen, besser noch: Ich hatte gehofft, dass sie Henk und seine Mutter nach dem Unfall ganz in Ruhe ließ. Es wäre nicht einfach gewesen, sich so kurz vor Drehbeginn noch auf ein anderes Kind einzustellen, doch ich hätte es geschafft. Auf meinem Schreibtisch lag ein Ordner voller wunderbarer Gedichte, die der zehnjährige Ingo Palmer mit seiner kindlichen Schrift in ein Schulheftgeschrieben hatte. Es hätte funktioniert, wir hätten auch mit ihm arbeiten können. Doch Dr. Schewe hatte nicht für den Bruchteil einer Sekunde mit sich reden lassen.
Ich fragte mich die halbe Nacht, warum es unbedingt nur Henk Andreesen sein musste, und ging an diesem Morgen gleich zuallererst in Dr. Schewes Büro, hakte nach und argumentierte sehr überzeugend, wie ich fand.
Wütend und unnachgiebig hatte sie jedoch schließlich selbst den Termin mit Malin Andreesen vereinbart und mich so vor vollendete Tatsachen gestellt. Und diese vollendeten Tatsachen sahen so aus, dass ich mich beschimpfen lassen musste.
Henks Mutter war Ende zwanzig, jünger als ich, doch sie sah mitgenommen aus: glanzlose Augen, müde Haut, vernachlässigte Haare. Ihre Lippen waren voll und mochten vor Jahren vielleicht einmal sinnlich gewesen sein, nun war das Dunkelrosa von feinen senkrechten Linien durchzogen und ihr Mund wirkte herb und verbissen. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, obwohl ich sie beim Betreten meines Büros bereits darauf aufmerksam gemacht hatte, dass auf dem gesamten Schulgelände Rauchverbot herrsche und sich eigentlich auch jeder mit Rücksicht auf die Kinder daran halte.
«Ihr Sohn hat uns mit seinen Fortschritten alle sehr beeindruckt, er ist auf dem steilen Weg nach oben, bedeutet Ihnen das denn gar nichts?»
«Mir ist mein Sohn genauso lieb wie vor seinem Höhenflug», sagte sie monoton.
«Aber Sie gönnen Henk doch die Chancen, die sich ihm nun dank Liekedeler auftun. Freuen Sie sich denn nicht darüber?»
Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor ihrem weiten, umhangähnlichen Kleid. «Klar ist es schön mit den Schulnoten, doch mein Junge ist nicht mehr der, den ich auf Juist gekannthabe. Er ist so ernst und so verschwiegen. Für eine Mutter ist es nicht schön, wenn sich das Kind zurückzieht, und wenn es noch so gute Arbeiten schreibt.»
Ich bekam sie mit meinen Argumenten nicht zu packen, das spürte ich.
«Es ist mir gelinde gesagt scheißegal, ob Ihre Institution auf Spendengelder angewiesen ist und Sie ausgerechnet meinen Sohn als Werbeträger benutzen wollen. Ich habe mir Liekedeler nicht ausgesucht, sondern Sie haben mich gefunden, das wollen wir mal klarstellen.» Sie saß mir gegenüber, ich konnte sehen, wie sie trotz ihrer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit innerlich kochte. «Herr Dieken rettet heldenhaft meinen Sohn und erzählt ihm etwas von einer großen Familie in einem verwunschenen Haus. Mein Sohn springt darauf an, na klar, seine geliebte Oma war gerade gestorben und er hatte Angst vor dem Leben weg von der Insel, dazu noch mit einer unbekannten Mutter. Ich gebe ja zu, Ihre Schule erleichtert mir meinen Alltag mit dem Kind auf angenehme Weise, doch wir sind nicht darauf angewiesen, weder Henk noch ich. Ich sage nein. Und jetzt wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag!»
Sie erhob sich vom Stuhl und schritt entschlossen zur Bürotür. Ich blieb sitzen, lehnte mich nach vorn, legte den Kopf schräg.
«Frau Andreesen, Henk ist ein wunderbares Kind, ob wir die Kampagne nun mit ihm machen oder nicht. Ich kann nur nicht verstehen, warum Sie so ungehalten reagieren. Ich habe Sie doch lediglich gefragt, ob Sie mit einem Filmauftritt Ihres Sohnes einverstanden sind.»
Die schlaksige Gestalt blieb stehen, den Türgriff bereits in der Hand. Es war ein bemerkenswerter Kontrast zwischen ihrer äußeren Erscheinung, die mehr wie ein lässiges Versehen, eine Laune der Natur aussah, und ihrer resoluten Reaktion.
«Damit eins klar ist: Ich will nicht, dass mein Sohn für irgendetwas benutzt wird. Es geht ihm hundeelend seit dem Unfall, bei dem Jolanda ums Leben gekommen ist. Zwei Tage ist es jetzt her und er leidet immer noch unbeschreiblich. Können Sie sich das überhaupt im Entferntesten vorstellen?» Sie holte kurz Luft und dabei erinnerte sie mich ein wenig an Henk, als ihm das Herz übergelaufen war und ich mir seinen Kummer angehört hatte. «Ich glaube
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