Fischer, wie tief ist das Wasser
würde ihr Versteck erobern. Frierend kroch Gesa ein kleines Stück in die Dunkelheit der Höhle, der schwarzgraue Himmel hatte das Tageslicht verschluckt und keinen halben Meter in ihrem unterirdischen Gang war es finster wie in der Hölle. Sie kroch blind weiter, die Knie schoben sich dem brausenden Bach entgegen, der inzwischen in den Röhren rauschte. Es war mehr Wasser, als sie befürchtet hatte.
Es wurde Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Als sie sich umdrehen wollte, stieß sie sich den Hinterkopf an einer harten Kante, sodass ihr für einen Moment übel wurde. Sie fuhr mit der Hand durch das Haar und fühlte etwas Feuchtes am Scheitel.Es konnte Blut sein oder Wasser, sie versuchte die Flecken an ihren Fingern zu erkennen, waren sie rot oder klar, doch es war zu finster, alles sah hier aus wie Blut, sogar das anschwellende Wasser. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund, lutschte ihn ab, versuchte zu schmecken, ein bitter-metallischer Geschmack breitete sich an ihrem Gaumen aus, doch sie meinte, es war Wasser. Zum Glück nur Wasser. Kein Blut.
Dann kroch sie aus ihrem Versteck, sie musste sich einen neuen Platz suchen, bis es wieder trockener wurde. Der Graben war voller Wurzeln und Gräser, die Brennnesseln bissen sich in ihre Hände und ihr Gesicht, doch der Regen löschte zum Glück jeden Schmerz.
Sie blickte kurz hinauf und wurde von einem spitzen Blitz geblendet, sie schloss instinktiv die Augen. Sie schmerzten von der Gewalt der grellen Lichtes, an das sie nach den dämmernden Stunden in ihrem Versteck nicht mehr gewöhnt war.
Als sie sie wieder öffnete, erkannte sie eine riesige Männergestalt über sich: Jochen Redenius stand mit gespreizten Beinen am Abhang des Grabens. Er sagte nichts, stand nur da im Regen und hielt ihr die Hand entgegen.
«Ich will aber nicht zurück», hörte sich Gesa jammern. Sie wunderte sich selbst, dass ihre Stimme nach einem kleinen, unglücklichen Mädchen klang. War sie dieses Mädchen? War sie nicht klug und erwachsen und schon längst kein Kind mehr? Als sie sich mit der Zunge über die Lippen strich und Salz schmeckte, wurde ihr erst bewusst, dass sie weinte. Und sie hatte es gar nicht bemerkt. Die Tränen waren ihr unauffällig aus den Augen gekrochen und hatten sie zu einem kleinen Mädchen werden lassen. «Bitte, bitte, ich will nicht zu meinen Eltern zurück!», heulte sie. Und dann streckte sie die Hände aus und ließ sich aus dem Wasser ziehen.
8.
Gebt mir zu trinken, ich verdurste.
Mein Mund war schal und trocken, als hätte ich eine Hand voll Sand hineingeschoben. Ich konnte nicht sprechen, nur denken, und selbst das ging langsam wie in Zeitlupe. Ein kurzes Bild flackerte auf und ich sah meinen Vater, seine wenigen glatten Haare klebten verschwitzt auf der Stirn, aber er lächelte. Anders als sonst, keine Spur von Belustigung, von Spaß, kein «Hey, da bin ich!». Er lächelte traurig und so behutsam, als hätte er Angst, ich könnte es sehen. Doch was machte er da? Hatte ich nach ihm gerufen?
Hatte ich nicht nach jemand anderem gerufen? War es nicht ein anderes Gesicht, welches mir nun nahe kommen durfte, ein helles Gesicht mit weniger Falten und strahlenden Augen, ein starkes Lächeln, breite Lippen?
Ich hatte in der Dämmerung einen Körper an meinem gefühlt, einen nassen, starken Körper. Unter mir das raue Reiben von Stoff und sonst nur Kraft, in mir, an mir, leidenschaftliche, handfeste Kraft.
Nun schwebte ich beinahe körperlos in einem fremden Ort aus Licht und weißen Laken und Worten, die wie durch einen Schleier zu mir drangen, die ich nicht verstand. Vielleicht wollte ich sie nicht verstehen. Ich war zu müde, um darüber nachzudenken. Ich war so müde und vertrocknet.
Gebt mir zu trinken, ich verdurste.
«Wo ist Sjard?», war mein erster Satz, den ich mit gezielten Worten aussprechen konnte, nachdem ich endlich begriffen hatte, was passiert war.
Ich lag im Krankenhaus, meine Glieder waren schwer, und alle zehn Minuten schaute eine Schwester zur Tür herein und fragte meinen Vater, ob alles mit mir in Ordnung sei. Und der nickte jedes Mal. Dabei war nichts in Ordnung, gar nichts. Natürlich hatte ich einiges abbekommen, doch die Panik, die mich ergriff, als mir Sjard wieder einfiel und der letzte Moment, in dem ich ihn im grauen Wasser verschwinden sah, diese Panik schmerzte mehr als mein Körper.
«Wo ist Sjard?»
Vater ergriff meine Hand. Ich war froh, dass er da war, auch wenn ich im ersten Moment lieber Sjard gesehen
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