Fischer, wie tief ist das Wasser
Jemand.
Ich stellte den Rechner an, summend fuhr er die Programme hoch, ein Geräusch, welches nach harmloser Büroarbeit, nach friedlicher Normalität klang. So als würde Sjard gleich zur Tür hereinkommen, um mir einen schönen Tag zu wünschen.
Ich musste mich beeilen. Solange alle am Mittagstisch saßen,war ich sicher. Keine Sekunde länger. Es gab auch nur eine Sache, die ich hier zu erledigen hatte, beinahe traute ich mich nicht, auf das Display zu schauen, wenn es nun doch nicht … Doch! Ich wusste es!
Eine Nachricht blinkte auf dem Bildschirm. Eine Nachricht aus dem Zentralcomputer. Eine Mail ohne Absender. Mein Herz setzte kurz aus und ich zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Ich kannte den Schreiber, ohne die Nachricht gelesen zu haben. Es musste derselbe Absender sein wie bei der letzten Botschaft vor wenigen Tagen.
Und dieser Absender musste leben, denn die Botschaft wurde erst vor wenigen Stunden an mich abgeschickt.
Du bist wieder da! Gott sei Dank, dir ist nichts passiert! Ich behalte dich im Auge.
Sjard! Mein Gott, er lebte. Ich wollte in meinem Kopf nach Erklärungen für sein Verschwinden suchen, doch ich hatte keine Zeit dafür. Ich hörte schon den Lärm der Kinder, die im Speisesaal artig die Teller ineinander stellten, das Husten der Erwachsenen, die sich vom Tisch erhoben, die ersten Schritte auf dem Flur.
Es war die letzte Gelegenheit, sich aus dem Büro zu schleichen, doch als ich die Tür leise öffnete, stand Dr. Veronika Schewe vor mir, als hätte sie geahnt, dass ich herauskommen würde. Abwartend, mit verschränkten Armen, sagte sie mit ihrer gewohnt klaren, tiefen Stimme: «Frau Leverenz, wie schön, dass Sie wieder hier sind. Geht es Ihnen gut?»
Hinter ihr stand Redenius, er sah mich nicht an, blickte zu den Kindern, die eifrig über den Flur rannten. «Nun mal langsam, nicht dass sich jemand verletzt», rief er ihnen zu.
Ich blickte an mir hinunter, sah meine Krankenhausgestalt, meine zerschlissene Hose und die unförmigen Schuhe, dannholte ich tief Luft und es gelang mir, mit einem etwas wehleidigen Blick wieder den Augen meiner Chefin zu begegnen. «Es geht mir nicht gut. Ich wollte fragen, ob ich für ein paar Tage Urlaub nehmen kann. Der Arzt sagte mir, ich solle …»
«Selbstverständlich können Sie sich freinehmen. Sie haben viel mitgemacht, wir alle hier sind zutiefst geschockt, was Ihnen und Sjard passiert ist.»
«Wo ist Sjard?»
Dr. Schewe legte ihre Hand auf meine Schulter, sie schien mich schwer zu Boden zu drücken, doch in Wahrheit stand ich kerzengerade vor ihr.
«Meine Güte, es ist schrecklich, wissen Sie, er hat es wohl nicht geschafft. Wir alle hoffen … vielleicht beten wir sogar, dass er doch irgendwie wieder auftaucht. Aber es ist schon zu viel Zeit vergangen, er wird seit mehr als vierzig Stunden vermisst.»
Redenius lehnte sich gegen die Flurwand. Er schaute noch immer den Schülern hinterher, obwohl diese schon längst durch die offene Haustür in den Garten verschwunden waren. «Gesa Boomgarden wird auch vermisst. Wir haben es gerade erfahren», sagte er monoton.
«Aber sie ist doch im Krankenhaus. Mein Vater hat es mir erzählt. Was ist mit ihr passiert?» Ich ging langsam ein Stück zur Seite, sodass Dr. Schewes Hand von mir abfiel.
«Die Polizei rief an, als wir gerade zu Tisch saßen. Das Kind lag heute Morgen nicht mehr in seinem Bett, das Fenster stand auf, es wird vermutet, dass sie entführt wurde.»
Entführt?, wollte ich fragen, doch mein Kopf gab mir schneller eine Antwort, als ich den Mund öffnen konnte. Gesa sollte heute Morgen untersucht werden! Mir war klar, dass jemand ein großes Interesse daran hatte, diese Untersuchung zu verhindern. Und mir war auch klar, wer dieser Jemand war.
«Die Schwester hat ausgesagt, dass sie gestern Abend eine Frau zu Gesa gelassen hatte, die sich als ihre Mutter ausgegeben hat. Man weiß nicht genau, wer diese Frau war, doch es wird davon ausgegangen, dass sie es war, die Gesa aus dem Krankenhaus verschleppt hat.»
Das Blut raste durch meine Adern, ich konnte mein Herz wild schlagen hören. Ich musste verschwinden.
«Die Polizei wird gleich hier sein, um uns eine Beschreibung der Person zu geben», sagte Redenius, es klang merkwürdig langsam und eindringlich, so als wolle er mir etwas zu verstehen geben, was ich ja schon längst begriffen hatte. Wenn die Polizei erst einmal hier war, gab es für mich keine Chance mehr. Ich würde dem Phantombild mehr als nur
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