Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
Vom Netzwerk:
Seitenspiegel sehen, dass er sich aufdringlich unserem Heck näherte.
    «Fahr weiter, Papa. Und fahr mich bitte zur Warft.»
    Doch er reagierte nicht, dickfellig starrte er mich weiter an. «Du warst nicht allein auf diesem Boot, Okka, dieser Vizechef von Liekedeler war dabei, stimmt’s? Und als es ums Ganze ging, hat dieser Kerl dich im Stich gelassen.»
    Wieder dröhnte das Hupen des Busses. «Er wollte Hilfe holen, Papa. Sjard Dieken kann sehr gut schwimmen und er wollte mich retten, weil ich außer mir war vor Angst und keinen Meter weiter konnte! Und nun fahr verdammt nochmal weg hier!»
    «Aber ist er denn wiedergekommen? Hat er dir geholfen?»
    «Bitte, Papa!»
    «Wann ist er verschwunden, um angeblich Hilfe zu holen?»
    Der Busfahrer drückte nun dreimal hintereinander auf das Signal, ich wartete jeden Moment auf den Ruck, mit dem der vierrädrige Riese uns nach vorn schob. «Papa, ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich schätze, es war gegen acht, halb neun. Jedenfalls hatte die Flut gerade seit einer Stunde oder so eingesetzt, keine Ahnung. Ist doch auch egal.» Ein älterer Herr klopfte schimpfend gegen die Scheibe an der Beifahrertür und zeigte wild gestikulierend auf seine Armbanduhr. «Ja, ja!», rief ich.
    Doch mein Vater ließ den Motor immer noch nicht an, er schien das Chaos um uns herum nicht zu bemerken oder er ignoriertees gekonnt. «Okka, es war halb elf, als dich die Segler aus dem Wasser zogen. Du warst schon ganz blau im Gesicht, sie dachten erst, du wärest tot. Und von deinem heldenhaften Sjard Dieken hat bislang niemand etwas gesehen oder gehört. Du hattest doch in den letzten vierundzwanzig Stunden genug Zeit zum Nachdenken, ist es dir da nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass er dich absichtlich entsorgen wollte?»
    Ich starrte ihn an, sprachlos, weil ich nicht glauben konnte, was er soeben gesagt hatte.
    «Vielleicht hat er sich nur selbst in Sicherheit gebracht. Alle Zeichen standen schlecht für dich, mein Schatz, er konnte sich beinahe sicher sein, dass du krepieren würdest. Und das wäre gut für ihn gewesen.»
    «Für wen?», schrie ich ihn an. Der alte Mann klopfte wieder ans Fenster, der Bus hupte durchdringend und ich hätte meinem Vater am liebsten die Augen ausgekratzt vor Wut. Weil er mir keine Möglichkeit gab, an eine andere Wahrheit zu glauben. «Für wen wäre es gut gewesen? Für wen?»
    «Für ‹Liekedeler› und somit auch für Sjard Dieken», sagte mein Vater ruhig und schaute dabei nicht weg. «Ich weiß, du willst das nicht hören.»
    Aber ich hatte es ja ganz hinten in meinem Kopf auch schon gedacht: Entweder war Sjard bei dem Versuch, mich zu retten, ums Leben gekommen. Oder aber er war am Leben und hatte mich im Stich gelassen, hatte es darauf angelegt, dass ich am Mast hing, bis das Wasser mir den letzten Halt nahm.
    Mein Vater ließ so plötzlich den Motor aufheulen, dass der Mann neben dem Wagen einen hektischen Satz zurück auf den Gehsteig machte. Doch noch ehe er den Wagen anrollen ließ, schnallte ich mich ab, stieß die Beifahrertür auf und stieg hastig aus dem Auto. Ich hörte noch, dass er «Wenn du michbrauchst, ich bin immer für dich da» sagte, bevor ich die Wagentür zuwarf, rasend vor Schmerz. Er fuhr davon. Ich drehte mich um und ging zu den Menschen, die mich anstarrten und sich wohl alle ihren Teil dachten über die Frau, die wild und verwirrt aussah und ausgebeulte Jogginghosen und Augenringe bis zu den Knien trug.
    Doch es kümmerte mich nicht. Wütend drängte ich mich als Erste in den Bus und setzte mich auf die vorderste Bank. Ich hatte Glück, er fuhr in die richtige Richtung.
     
    Niemand hatte mich bemerkt, als ich auf das Grundstück schlich.
    Sie saßen gerade alle im Speisesaal, als ich in mein Büro ging, es roch nach Montagmittag, nach Labskaus mit Spiegeleiern.
    Ich war außer Atem, von der Bushaltestelle bis hierher waren es nur knapp fünfhundert Meter, doch meine Beine waren noch immer schwach und ich schwitzte ungewöhnlich heftig, obwohl es draußen nicht mehr so drückend warm war wie vor dem Gewittersturm.
    Es gelang mir, beinahe lautlos ins Büro zu schlüpfen und die Tür zu verriegeln. Das Licht blieb aus, ich blickte mich um. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich am Samstag den Papierstapel vor mir so akkurat hinterlassen hatte. Natürlich hatte jemand meine Sachen durchwühlt. Jemand war mir auf den Fersen. Jemand wollte wissen, was ich wusste. Jemand. Ich musste schneller sein als dieser

Weitere Kostenlose Bücher