Fischer, wie tief ist das Wasser
Vom Hafen bis zum Ortskern waren es nur zweihundert Schritte, und wenn man dann auf dem Kurplatz stand, hörte man schon wieder das nahe Meer hinter den roten Häusern rauschen.
Henk hatte mir einmal erzählt, dass sein Haus in der Nähe der Tennisplätze lag und er früher immer die gelben Bälle aus den Dünen aufgesammelt hatte, um sich so ein paar Tennisstunden zu verdienen. Ich musste rechts abbiegen, daran erinnerte ich mich noch aus seinen Erzählungen. Hoch zur Strandpromenade und dann rechts ab. Ich wusste, dass ich hier richtig war. Endlich keine Chance mehr, den falschen Weg einzuschlagen.
Auf der Straße zum Strand roch es nach frischer Wäsche aus dem Keller eines Hotels, nach Fischbrötchen, die es an einem fahrbaren Verkaufsstand gab und für die Dutzende Schlange standen, nach dem Sonnenöl auf der Haut der Urlauber, Inselidylle pur.
Ich trug immer noch die Kleidung, die mein Vater mir ins Krankenhaus gebracht hatte. Ich schwitzte und irgendwann hielt ich kurz an, setzte mich in den warmen Sand und zog meine Schuhe und die Jogginghose aus und steckte alles in einen Abfalleimer ein paar Meter weiter. Niemand scherte sich darum. Alle waren nur damit beschäftigt, nichts zu tun. Barfußund zufrieden ging ich weiter und genoss das sonnensatte Backsteinpflaster unter meinen Füßen.
Das Haus war nicht schwer zu finden. Henk hatte mir so oft beschrieben, wie es sich mit seinem Reetdach auf den obersten Dünen zwischen den graugrünen Gräsern versteckte. Ich bog in den schmalen Sandweg ein und öffnete wenige Schritte weiter eine kleine Holzpforte, über der mich an einem alten Tau baumelnd ein Schild mit
Moin bi Familie Andreesen
begrüßte.
Die Haustür stand auf, so als erwartete man mich, also ging ich in den kühlen, dunklen Flur mit dem blauen Fliesenboden. «Hallo?»
Erst kam keine Antwort. Ich dachte, dass die beiden bei diesem schönen Wetter sicher Besseres zu tun hatten, als zu Hause zu bleiben. Vielleicht waren sie am Strand, in den Dünen, im Inseldorf?
«Okka!», rief Henk und im selben Augenblick hatte er mich regelrecht von hinten überfallen, stürmisch schlang er seine dünnen Arme um meinen Hals. «Ich meine natürlich: Frau Leverenz!», fügte er verlegen hinzu, als ich mich zu ihm umdrehte.
«Hallo, Henk, ich freue mich so, dich zu sehen!» Ja, das tat ich wirklich. Ich hatte ganz vergessen, wie liebenswert er war.
Ich drückte ihn noch einen Moment, dann sah ich, wie Malin Andreesen aus dem hellen Licht vor der Tür in den dunklen Flur trat. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, wusste nicht, ob sie erfreut oder wütend über mein plötzliches Eindringen in ihr Privatleben war. Sie machte zwei Schritte auf mich zu und reichte mir die Hand. Ich nahm sie, ihre Finger waren warm und sandig und an ihrem Druck erkannte ich, dass ich willkommen war.
«Kann ich für ein paar Tage bei Ihnen bleiben?»
Sie taten ihr nicht weh. Das Bett, auf dem sie lag, war weich und breit genug, um sich darin zu drehen und zu wenden, soweit es ihr mit den festgebundenen Armen möglich war. Auch das Essen, das einer von ihnen, der, der nichts sagte, ihr immer wieder mit dem Löffel einflößte, schmeckte gut. Er schien jede Mahlzeit auf einem Gaskocher frisch zuzubereiten. Gesa konnte den feinen Gasgeruch wahrnehmen, sie konnte ja nichts sehen. Seitdem sie von ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, verhüllte eine feste Stoffbinde ihre Augen. Doch an den Geräuschen um sich herum, an dem ewigen Rücken von metallenen Gegenständen und der stickigen, mit kaltem Zigarettenrauch geschwängerten Luft meinte sie zu erahnen, dass sie in einem Campingmobil oder einem Baucontainer untergebracht war.
Den einen, der nichts sagte, erkannte sie an seinen sanften, fast zärtlichen Berührungen, mit denen er sie vor dem Essen ein wenig aufrichtete. Der andere sprach auch nicht viel, doch was er sagte, klang freundlich, teilweise sogar ein wenig besorgt.
Sooft Gesa genug Kraft hatte, nervte sie die beiden Männer mit ihren Fragen. Schon als ganz kleines Kind hatte sie die Erfahrung gemacht, dass man die Erwachsenen mit der ewigen Fragerei in den Wahnsinn bringen konnte. Und sie verfolgte mit ihren Quälereien ein ganz bestimmtes Ziel, oder besser gesagt, zwei Ziele: Entweder verloren die Männer die Nerven und begingen eine Unachtsamkeit, die ihr zur Flucht verhelfen konnte, oder sie verloren die Nerven und sagten ihr direkt ins Gesicht, was sie mit ihr vorhatten. Egal, was passierte, es verkürzte diese
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