Fischland Mord - Küsten-Krimi
die große
Glasfront in den nächtlichen Himmel. Was sie auf der Seebrücke gesagt hatte,
stimmte: Es war keine Lösung, jede Nacht die Flucht zu ergreifen. Aber deswegen
lag sie ja auch nicht hier, sondern weil ihr Gefühl vorhin deutlich verlangt
hatte, bei Paul zu sein.
Das würde trotz der wenigen verbleibenden Stunden bis zum Morgen
eine sehr lange Nacht werden.
22
Kassandra stand auf dem Hohen Ufer zwischen Wustrow und Ahrenshoop,
der Wind spielte in ihren Haaren. Paul stand neben ihr und sagte etwas, das sie
nicht verstand, als sie eine Hand in ihrem Rücken spürte, die sie mit ganzer
Kraft nach vorn stieß, über die Klippe hinweg. Sie stürzte, sah die Steine und
die See auf sich zukommen. In freiem Fall drehte sie sich und erkannte Paul,
der entsetzt ihren Namen rief.
»Kassandra.«
Sie streckte die Arme nach ihm aus, aber ihre Hände griffen nur
etwas Weiches, sie fand keinen Halt.
»Kassandra, es ist halb sechs.«
Sie fuhr hoch und wäre fast mit Paul zusammengeprallt, der sich über
sie gebeugt hatte. In ihren Armen hielt sie das Kissen.
»Wach?«, fragte Paul lächelnd. »Tut mir leid, wenn ich zu unsanft
war. Ich bin’s nicht gewohnt, Frauen um diese Uhrzeit aus meinem Bett zu
schmeißen. Im Bad findest du Handtücher und eine Zahnbürste.«
Kassandra verzichtete darauf, Pauls Duschgel zu benutzen. Den ganzen
Tag seinen Duft auf ihrer Haut zu tragen, wäre zu viel für sie gewesen. Sie
verzichtete ebenfalls auf die Tasse Kaffee, die er ihr anbot, weil sie so früh
zu Hause sein wollte, dass möglichst wenige Leute sie durch ihr Schlafzimmerfenster
einsteigen sahen.
»Du kannst die Haustür nehmen«, meinte Paul. »Kauf auf dem Weg
Brötchen für deine Gäste, und falls Arnold dich sieht, hast du eine
Entschuldigung, um die Zeit auf den Beinen zu sein.«
Um die Nachbarn hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, dafür
aber um früh aufstehende Jogger, denn Paul hatte kaum die Tür hinter ihr
geschlossen, als sie ausgerechnet Violetta über den Weg lief. Ihre Freundin
stoppte sofort und starrte Kassandra wie vom Donner gerührt an. Vermutlich rang
sie zum ersten Mal in ihrem Leben um Worte.
»Violetta, es ist nicht, wie du denkst.« Selbstverständlich war das
das, was man in solchen Situationen sagte und was der andere zu hören erwartete
– und nie glaubte.
»Du und Paul Freese?«, sagte Violetta denn auch verdattert, als sie
ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Meine Güte, das hätte ich nun wirklich
nicht gedacht, obwohl, du hast ja neulich gefragt, warum ich dir nie was über
Alexander Hardenberg erzählt hätte, und wenn ich so drüber nachdenke, bist du
in diese Richtung gegangen, als wir uns an dem Abend getrennt haben, ich hätte
es wissen müssen, meine Güte!«
»Violetta! Wie wär’s, wenn du mir einfach glaubst? Es ist nichts
zwischen Paul und mir. Wir sind bloß befreundet.«
»’türlich, man kommt ja regelmäßig morgens um zehn vor sechs aus den
Häusern von Männern, mit denen man bloß befreundet ist.«
»Nicht regelmäßig, nur heute. Wenn du mir partout nicht glauben
willst, lass es eben, aber halt wenigstens anderen gegenüber den Mund. Bitte.«
»Du klingst richtig verzweifelt, hast du Angst, dass du Ärger mit
deinem Künstler kriegst?«, fragte Violetta.
Das kam der Wahrheit sehr nahe. Kassandra nickte.
»Du bist weitaus komplizierter, als ich dachte, und das hat nichts
damit zu tun, dass du mal Kassandra Larsen warst, sondern damit, dass du drei
Kerle gleichzeitig an der Angel hast, wie machst du das bloß, das hätte ich nie
für möglich gehalten, Jonas, Paul und den Kesting.« Sie musterte Kassandra
neugierig. »Meine Lippen sind versiegelt.«
»Danke, du hast was gut bei mir. Ziemlich viel.«
»Wie wär’s mit Arnold Kesting, wenn du den nicht mehr brauchst?«
Violetta kicherte, setzte sich wieder in Bewegung und winkte ihr zu. »Wir sehen
uns.«
Kassandra besorgte wie geplant die Brötchen, und als Arnold gegen
neun die Küche betrat, hatte sie für ihre Gäste nicht nur das Frühstück
vorbereitet, sondern auch die Büroarbeiten erledigt, die sie später als Ausrede
benutzen würde, nicht an der Zeesboottour teilzunehmen. Außerdem hatte sie nach
Susanne Boes’ Adresse im Internet gesucht. Arnolds Verhalten ließ nicht darauf
schließen, dass er sie in der Nacht vermisst hatte oder etwas vermutete.
Bald darauf schneite Jonas herein. Nach einem allgemeinen »Guten
Morgen« fragte er ohne lange Vorrede, ob Arnold Lust auf eine
Weitere Kostenlose Bücher