Fischland Mord - Küsten-Krimi
»Hast du mal was von Alexander
Hardenberg gelesen?«, fragte sie.
»Nein. Was schreibt der denn? Ich gestehe hiermit, dass ich in
erster Linie Fachliteratur lese.«
»Das gibt’s?«, staunte Kassandra nur halb scherzhaft. »Hardenberg
schreibt …« Sie zögerte, weil sie nicht wusste, ob es dafür eine
Genrebezeichnung gab. »… Geschichten über die See und die
Menschen. Egal ob über einen Schiffer aus Prerow oder über eine
Tänzerin von den Scilly Islands, seine Figuren sind immer echt,
lebendig, als säßen sie vor dir und erzählten dir ihr Leben. Und es kann
passieren, dass du auf der einen Seite Tränen weinst und auf der nächsten
Tränen lachst.«
»Klingt, als wäre der Mann ein Genie.«
»Jedenfalls ist er ein begnadeter Schriftsteller.« Sie fuhr mit den
Fingern die Konturen eines Ankers auf einem der Grabsteine nach und zwang sich,
wieder an den Grund ihres Hierseins zu denken. »Sind solche Grabmäler auch
Inspiration für Bildhauer wie Tina?«
»Schlag’s ihr vor. Sie hat durchaus manchmal einen morbiden
Geschmack, vielleicht liegt ihr das.« Arnold lächelte. »Stehen wir hier, um
über Tina zu reden?«
»Natürlich nicht«, widersprach Kassandra. »Wir stehen
hier, weil es einer der schönsten Plätze auf dem Darß ist. Willst
du noch ein paar sehen?« Innerlich schimpfte sie mit sich selbst. Sie durfte
Arnold nicht mit der Nase auf ihre Motive stoßen.
»Absolut. Falls dazu ein Restaurant oder ein Café gehört, wäre ich
dankbar. Ich bin nämlich am Verhungern.«
Eine halbe Stunde später saßen sie im Garten der »Teeschale« bei hausgemachtem Kuchen und zwei Kannen Tautropfen-Tee. Kassandra
kam oft nach Prerow, nur um in diesem Garten zu sitzen und sich verwöhnen zu
lassen.
»Ich hab inzwischen etwas Tinas Hintergrund recherchiert«, begann Arnold zwischen zwei Bissen Heidelbeerkuchen. »Ein bisschen
wusste ich natürlich schon. Aber dennoch bin ich da auf eine interessante Sache
gestoßen. Erinnerst du dich, dass Gerlinde den Privatunterricht erwähnte, den
Tina während ihres Studiums genommen hat?«
»Dunkel, aber mir fällt kein Name dazu ein.«
»Heiner Bertram. Der Mann war ein anerkannter Bildhauer in der DDR und wurde Anfang der Achtziger mit Auszeichnungen überschüttet. Dann ging es bergab mit ihm. Niemand weiß so recht,
warum. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches bei einem Künstler. Du kannst
heute top sein, doch über Nacht ist was ganz anderes angesagt, und du stehst
draußen. Da musst du dich entweder schnell anpassen, oder du bleibst deiner
Linie treu und endest im Bedeutungslosen. Allerdings hab ich
immer gedacht, dass in der DDR das
System bestimmt hat, was gefällt und was nicht. Könnte also sein, dass Bertram
in Ungnade gefallen ist.«
»Vielleicht hatte er persönliche Probleme«, mutmaßte Kassandra.
»Mag sein«, sagte Arnold wenig überzeugt. »Jedenfalls hat sich
Bertram vor ein paar Jahren völlig überraschend aufgerappelt, seine Arbeiten waren plötzlich wieder gefragt. Ungefähr zur selben Zeit,
als Tina bei ihm Unterricht nahm.«
Kassandra zwirbelte nachdenklich an einer Haarsträhne. »Was heißt
ungefähr? Vorher oder nachher?«
»Das ist natürlich die Frage. Je nachdem, wie die Antwort ausfällt,
wäre die nächste Frage, ob es einen Zusammenhang gibt.«
»Tina war zu dem Zeitpunkt eine kleine Studentin. Was hätte sie
bewirken sollen?«
»Bertrams berühmteste Plastiken sind Aktfiguren. Tina
steht ihm da übrigens an Talent in nichts nach. Vielleicht war
sie damals nur seine Schülerin. Ganz unschuldig. Vielleicht hat
Bertram in ihr aber auch seine Muse gesehen und, statt Geld zu
verlangen, sie dafür bezahlt, dass er sie …
unterrichten durfte. Nicht umgekehrt.«
»Du meinst, Kind hat Tina erpresst, weil sie sich prostituiert hat,
um ihr Studium zu finanzieren?«
Arnold zuckte mit den Schultern. »Sagen wir eher, sie hat
möglicherweise ihre Finanzen aufgebessert, nötig gehabt hätte sie es bestimmt
nicht. Solange ich sie kenne, hatte sie allerdings immer was übrig für das kleine
bisschen Extra. Vielleicht liege ich falsch, aber wenn nicht, könnte ich mir
vorstellen, dass Bertram nicht der Einzige war, dessen … Muse sie gewesen ist.
Wer weiß also, was da noch im Verborgenen liegt, das Josef Kind zutage
gefördert hat.« Er rührte zwei weitere Kandisstückchen in seinen Tee, und
Kassandra bemerkte, dass er dem Strudel in der Tasse mit den Augen folgte. »Es
hat mich mehrere Telefonate und eine Menge Geduld gekostet,
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