Fischland Mord - Küsten-Krimi
Ungläubig schüttelte Jonas den Kopf, doch sie sprach
schon weiter. »So was soll’s geben. Ich beispielsweise habe keine
Ahnung, wer mein Vater ist.«
»Tatsächlich nicht?«, fragte Jonas erstaunt.
»Ich weiß nicht mal überwältigend viel über meine Mutter, geschweige
denn über ihre Familie. Ich kenne ihren Mädchennamen und ihren Geburtsort,
Bergen auf Rügen, weil das in den Papieren steht. Es gab keine weiteren
Unterlagen, deshalb habe ich immer angenommen, dass sie Streit mit ihrer
Familie hatte und ihre gesamte Vergangenheit auslöschen wollte.«
»Hast du nicht nachgeforscht?«
»Es war mir nie wichtig genug. Wenn du dein ganzes Leben ohne
Familie zugebracht hast, fehlt sie dir nicht, und was meinen Vater betrifft,
wollte ich meine Mutter nicht bedrängen. Wahrscheinlich hatte sie ihre Gründe,
ein Staatsgeheimnis draus zu machen. Ich hab jedenfalls auch nach ihrem Tod
keine Hinweise gefunden. Er könnte sonst wer sein.«
Jonas guckte noch immer zweifelnd, dann sagte er
plötzlich hinterhältig: »Stell dir vor, es ist Heinz Jung.«
Kassandra lachte. »Ich weiß nicht, wen ich mehr
bedauern müsste, ihn oder mich!«
Jonas wandte sich um. »Hey, Paul, das wär was, oder?«
Paul reagierte nicht. Er saß nur da und starrte auf den Tisch.
»Erde an Paul, bist du anwesend?«, fragte Jonas.
»Ja.« Er schien von sehr weit weg zu kommen. »Ja, bin ich.« Paul
stand auf. »Möchte jemand was trinken?«
»Einen Wein, wenn du hast«, bat Kassandra. Ratlos blickte sie ihm
hinterher. Etwas musste ihm eingefallen sein, vielleicht etwas über Josef
Kind, auf dessen Akte er eben gestarrt hatte. Als er zurückkam
und Kassandra das Weinglas reichte, fiel ihr auf, dass seine Hand leicht
zitterte, doch seiner Stimme war nichts anzumerken, als er wieder sprach.
»Die Einzige, die uns diese Fragen endgültig
beantworten kann, ist Tina Bodenstedt. Wir müssen sie finden.«
»Irgendwelche Vorschläge?«, warf Jonas ein.
»Ich möchte wissen, warum sie …«, murmelte Kassandra, brachte aber
ihren Gedanken nicht zu Ende, weil Paul sich gerade mit beiden Händen durch die
Haare fuhr, eine Geste, die ihn müde erscheinen ließ. »Geht’s dir gut?«, fragte
sie.
Er hob den Kopf und schaute sie an, als müsse er sich mühsam auf
ihre Worte konzentrieren. »Ja, klar«, sagte er schließlich und fügte dann in
aufgeräumtem Ton hinzu: »Was möchtest du wissen?«
»Warum Tina so abgekämpft aussah. Was immer da unten im Keller
passiert ist, hat sie offenbar nicht kaltgelassen. Nehmen wir an, sie hat
Angst, wovor auch immer. Sie will in Ruhe gelassen werden, nachdenken. Wohin
würde sie gehen?«
»Wohin würdest du in so einem Fall gehen?«, fragte Paul.
Kassandra lächelte. »An einen Ort, der mir was bedeutet, der leise
ist und ruhig. Ich würde hierher kommen. Als wir uns zum ersten Mal begegneten,
hab ich gesagt, ich hätte mich in Wustrow verliebt. Das stimmt, aber das war
schon, bevor ich mit Sven hier war. Ich hatte davon gelesen. In deinem Roman.«
Paul erwiderte nichts, aber sie sah ihm an, dass ihn ihre Worte
berührten.
»Was ich sagen will – vielleicht gibt es einen ähnlichen Ort für
Tina. Der kann was mit ihrer Kindheit zu tun haben oder mit ihrer Arbeit. Über
ihre Kindheit wissen wir nichts, aber …« Kassandra griff nach einem der
Ausstellungskataloge und blätterte darin, bis sie eine bestimmte Stelle fand.
»›Seit frühester Jugend hatte Tina Bodenstedt ein großes Vorbild, den Bildhauer
Emil Herdes. Bodenstedts Kummer war stets, dass sie dem Künstler
nie persönlich begegnen würde, der bereits vierzig Jahre tot war,
als sie selbst auf die Welt kam‹«, las sie vor. »Es folgen noch drei Absätze,
inwieweit Herdes’ Arbeiten ihre inspiriert haben, nämlich sehr viel mehr, als
Heiner Bertram es je getan hat. Herdes war sozusagen ihre erste große Liebe –
der Grund, warum sie überhaupt Bildhauerin wurde. Das muss nichts heißen, aber
wir müssen irgendwo anfangen.«
Paul holte ein dickes Kunstlexikon aus seinem Regal. »Herdes wurde in Neubrandenburg geboren, lebte und arbeitete einige Zeit
auf Rügen und Hiddensee, ging nach Berlin, um schließlich seinen
Lebensabend in –« Er sah auf. »… in Ribnitz zu verbringen. Um die Ecke, sieh
an.«
»Steht da, wo genau?«, wollte Kassandra wissen.
»Nein. Fragen wir Google.«
Nach einer Weile wurden sie fündig. Herdes’ Häuschen stand in
Boddennähe und wurde heute an Feriengäste vermietet.
»Das wäre zu schön, um wahr zu
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