Fischland Mord - Küsten-Krimi
schwarzer Smart neben dem Haus
gestanden, hätte Kassandra geglaubt, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu
sein.
Sie machte einen Schritt auf die Lichtung hinaus, doch Paul hielt
sie zurück. »Warte, bis ich hinter dem Haus bin.« Am Waldrand entlang bewegte
er sich unauffällig um die Lichtung herum und lief das letzte Stück zum
hinteren Teil des Hauses. Als er nicht mehr zu sehen war, trat Kassandra vor
und ging langsam auf die Eingangstür zu. Sie lauschte, es war nichts zu hören.
Vielleicht war überhaupt niemand da. Entschlossen hob sie die Hand und klopfte
laut und vernehmlich. Keine Reaktion, kein Geräusch.
»Frau Bodenstedt?«, rief sie. Ein bisschen unheimlich
war ihr schon zumute. Sie musste zugeben, dass sie froh war über Pauls Gegenwart.
»Frau Bodenstedt? Mein Name ist Kassandra Voß, ich würde gern mit Ihnen reden.
Es ist wichtig. Bitte.« Erneut klopfte sie, doch noch immer kam keine Antwort.
Sie spähte durch eins der Fenster, konnte allerdings nur
eine Küchenzeile und einen Esstisch erkennen. Da hörte sie von
rechts ein Geräusch.
Fünf Meter entfernt stand eine Frau in einem
Regenmantel. Wenn Kassandra nicht gewusst hätte, wen sie suchte,
hätte sie Tina Bodenstedt kaum wiedererkannt, deren blondes Haar ihr
in feuchten Strähnen in das völlig ungeschminkte Gesicht fiel.
Kassandra wagte nicht näherzukommen, weil sie befürchtete, dass Tina, die ihr in einer Mischung aus Verblüffung und Panik entgegensah, wieder
weglief.
»Hallo, Frau Bodenstedt, ich bin Kassandra Voß. Ich war auf Ihrer
Ausstellungseröffnung in der Kunstscheune, und wir sind uns am Dienstag
an der Seefahrtschule begegnet. Ich möchte mit Ihnen reden.«
Tina Bodenstedt blieb, wo sie war. »Ich weiß nicht,
was Sie meinen. Sie müssen mich verwechseln.«
»Das glaube ich nicht. Es geht um Arnold Kesting … und um Josef
Kind.«
Bei der Erwähnung der beiden Namen legte Tina die Hand auf den Mund,
blieb aber stumm. Kassandra versuchte sich vorzustellen, wie
die eher fragil als gefährlich wirkende Frau auf Arnold losging
oder jemandem auch nur befahl, ihm den Fuß zu brechen. Das war
nicht ganz leicht, aber man konnte nie wissen, welche Gefühle in
einem Menschen brodelten.
»Ich will wirklich nur mit Ihnen reden«, fing Kassandra noch mal an.
»Niemand weiß, dass ich hier bin. Arnold sitzt bei mir zu Hause und denkt, ich
bin beim Arzt.« Für einen Moment glaubte sie, mit
dem letzten Satz einen Fehler gemacht zu haben, denn Tina
Bodenstedt schrak heftig zusammen.
»Arnold ist bei Ihnen?« Resigniert ließ sie die Schultern sinken.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Emil Herdes«, erklärte Kassandra.
Tina nickte abwesend und sah sich auf der Lichtung um, als suche sie
jemanden. »Wieso wollen Sie noch mit mir reden? Hat Arnold Ihnen nicht schon
alles erzählt?«
»Er hat eine Menge erzählt, aber ich bin mir nicht sicher, ob das
die Wahrheit ist.« Diesmal hatte Kassandra offenbar die richtigen Worte
erwischt. Sie konnte sehen, wie es hinter Tinas Stirn buchstäblich zu arbeiten
begann. Als sie unvermutet in die Tasche ihres Regenmantels griff, versteifte
sich Kassandra für eine Schrecksekunde. Doch Tina zog nur einen Schlüssel
hervor.
»Ich hab es satt, allein über dem ganzen Schlamassel zu hocken.
Wahrscheinlich sollte ich mit jemandem reden. Wieso nicht mit Ihnen?« Tina ging
vor und hängte im Vorbeigehen ihren Mantel an der Garderobe auf. »Setzen Sie
sich.« Sie deutete auf eine blau-weiß karierte Sitzgruppe. Als sie einander
gegenübersaßen, maß sie Kassandra mit einem langen Blick. »Ich hab Sie in
der Kunstscheune bemerkt. Arnold hat sich für Sie interessiert«,
sagte sie. »Weshalb auch immer er jetzt bei Ihnen ist, ich
empfehle Ihnen: Schmeißen Sie ihn raus, das ist sicherer für
Sie.«
»Sicherer? Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie ihm den Fuß
gebrochen und nicht umgekehrt. Oder zumindest Ihr blonder Hüne.«
»Wer?« Tina sah sie befremdet an.
Kassandra erklärte, was Arnold über die Ereignisse im
Keller der Seefahrtschule erzählt hatte. Während des daraufhin
herrschenden Schweigens versuchte sie, Tinas Gesichtsausdruck zu deuten. Mit
einem Mal brach Tina in ein derart hysterisches Lachen aus, dass ihr Tränen in
die Augen stiegen. Kassandra war nicht ganz klar, ob sie immer noch lachte oder
verzweifelt schluchzte. Sie hockte sich neben sie, reichte ihr ein Taschentuch
und wartete ein, zwei Minuten, bis sie sich beruhigt hatte.
»Arnold Kesting hat meinen Vater
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