Fischland-Rache
nicht kannte.
»Es dauerte zwei Stunden, bis endlich ein Tisch frei wurde. Heinz wartete die ganze Zeit allein und ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln, auÃer mit mir oder meinem Kollegen, wenn er ein frisches Pils bestellte. Als ich ihm am Tisch endlich die Speisekarte reichte, sagte er: âºIch nehme an, eine einfache Bulette haben Sie hier nicht?â¹ Ich war sowieso schon gestresst, fehlte gerade noch, dass jemand mit so was kam â ich antwortete, ohne nachzudenken. âºAlles, was mit Bullen zu tun hat, hat hier nichts zu suchen.â¹ War mir kaum rausgerutscht, da begriff ich, dass das eine mehr als geschäftsschädigende Bemerkung gewesen war. Heinz fing aber bloà an zu lachen â dieses eigenartige abgehackte Lachen, an das man sich erst gewöhnen muss. Er bestellte das teuerste Gericht von der Tageskarte und aà mit Genuss.«
Das wiederum konnte Kassandra sich gut vorstellen. Heinz hatte einen trockenen Sinn für Humor, nur lieà er einen das selten sehen.
»Weil er erst so spät etwas bekommen hatte, war er einer der letzten Gäste an diesem Abend, dem ich die Rechnung brachte. Er gab mir ein groÃzügiges Trinkgeld, was mir nach dem Vorfall extrem peinlich war. Ich wollte mich wenigstens jetzt entschuldigen, aber er winkte ab. âºGegen das, was ich im Laufe meiner Dienstjahre alles zu hören bekommen habe, war das harmlos. AuÃerdem bin ich selbst schuld, ich habe Sie schlieÃlich provoziert.â¹ Das stimmte, und dass ich das zugelassen hatte, ärgerte mich am meisten an der Sache. Was er mir zweifellos ansah. Er musterte mich in einer Art, die wahrscheinlich schon vielen Leuten, die mehr getan hatten, als andere zu beleidigen, reichlich zu schaffen gemacht hat â als würde er in mir lesen. Er sah nicht irgendeinen Kellner, sondern mich, und ihn schien zu interessieren, was er sah. So was passiert mir nicht gerade häufig, ich lege auch normalerweise keinen Wert darauf, dass sich jemand näher mit meiner Person befasst. Heinz las das ebenso in meinem Gesicht. Er stand auf, wünschte mir einen angenehmen Abend und ging.«
Mirko hatte flüssig erzählt, jetzt kam er ins Stocken. Er schaute wieder in die Kerzen und danach im Zimmer umher, als hoffe er, dort die richtigen Worte zu finden. »Mir ist dieser forschende Blick nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und ich fragte mich, was Heinz alles über mich wusste, bloà weil er mich ein paar Sekunden lang taxiert hatte. Hatte er gesehen, wie ruhelos ich war? Wie unentschieden? Wie â¦Â« Wieder hielt Mirko inne, bis er Pauls Blick festhielt. »Wie lange hast du gebraucht, bis du wusstest, was du wolltest?«
Paul rieb sich das Kinn. »Ich hab in meinem Leben einiges ausprobiert, ein paar Dinge waren gut, ein paar weniger. Zur Ruhe gekommen bin ich erst durchs Schreiben.«
»Da warst du schon über vierzig.«
Paul nickte.
»Da bin ich ja richtig früh dran. Heinz und ich sind uns ein paar Tage später wieder begegnet, am Strand, weit hinter der Nebelstation, schon halb in Dierhagen. Ich mach oft lange Spaziergänge, und wie sich herausstellte, tat Heinz das auch. Wir waren uns sogar schon ein paarmal über den Weg gelaufen, aber bisher hatte niemand den anderen beachtet. So fingâs an. Zuerst haben wir bloà über das Wetter geredet, was man eben so sagt, aber bald wurde es persönlicher. Ich hatte das Gefühl, ernst genommen zu werden, ein Gefühl, dass ich bei Ralf niemals hatte. Der wollte mich entweder in Watte packen oder mich zusammenstauchen, zugehört hat er mir nie. Ich bin schon mit siebzehn von zu Hause weg, was Ralf versucht hat, mit allen Mitteln zu verhindern. Kam ihn sicher schwer an, so kurz nach seiner Scheidung auch noch mich zu verlieren. Aber er hatte selbst schuld, und ich hab drauf geschissen. Nicht dass es mir geholfen hat. Ich hab bis auf mein Abi nichts zu Ende gebracht und nichts mit meinem Leben angefangen. Heinz hat von seinem Leben erzählt, und je länger ich zuhörte, desto häufiger dachte ich daran, Polizist zu werden. Heinz hat mir abgeraten. Er meinte, ich lieÃe mich zu sehr von Gefühlen leiten.« Mirko lachte auf. »Das lässt sich nicht verleugnen. Aber Gerechtigkeit bedeutet mir was, es gibt viel zu wenig davon und viel zu viel Unrecht. Hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ich werde nächstes Jahr anfangen, in Greifswald Jura zu studieren, und bis dahin
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