Fischland-Rache
belügen. Das war ihr schon schwer genug gefallen, als er Näheres zu dem Streit zwischen Paul und Sascha hatte wissen wollen. Aber sie konnte und würde Paul nicht in den Rücken fallen, egal, wie sehr sie sich damit in die Nesseln setzte. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen Dietrich gegenüber und war froh, als die beiden sich endlich verabschiedeten.
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Kassandra schlief schlecht, wachte gerädert auf, kümmerte sich mehr wie ein Roboter um das Frühstück ihrer Gäste und war dankbar, dass sie momentan nur ein Zimmer vermietet hatte. Sie war heute kaum fähig, eine behagliche Atmosphäre für ihre Gäste zu schaffen, zu sehr lastete ihr Pauls Verhalten auf der Seele. Seine Lüge der Polizei und sein mangelndes Vertrauen ihr gegenüber, die Gleichgültigkeit, als sie ihn fragte, ob sie ihn zu seiner Mutter begleiten sollte, das war alles ein bisschen viel für sie. Kassandra betrachtete den mit Marmelade verschmierten Teller, den sie gerade in die Spülmaschine stellen wollte. Je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher erkannte sie, dass Pauls Gleichgültigkeit nur vorgetäuscht war. Er wusste, welche Fehler er beging, und wollte einer Diskussion darüber aus dem Weg gehen. Das hatte er ja auch erreicht, indem er sie so abbügelte. Sollte sie nun traurig sein oder ärgerlich?
Im Laufe der folgenden Stunden war sie ein paarmal kurz davor, Paul anzurufen, aber sie lieà es bleiben. Sie überlegte, einen langen Spaziergang zu machen, doch auch das lieà sie bleiben, weil es drauÃen ungemütlich nasskalt war. Als am Nachmittag endlich der Regen aufhörte, lief sie am Strand entlang bis nach Ahrenshoop und hätte dabei mehrmals fast nasse FüÃe bekommen, weil die Wellen der See weit ins Land hineinrauschten. Zurück nahm sie deshalb den Weg auf dem Hohen Ufer. Zu spät wurde ihr klar, dass sie unweigerlich an der Stelle vorbeikommen würde, an der sie tags zuvor auf das Polizeiaufgebot gestoÃen war. Kurz vor dem Strandübergang verfiel sie in einen Laufschritt, um den Abschnitt schneller hinter sich zu bringen.
Nach zweieinhalb Stunden bog sie wieder in die LindenstraÃe ein und sah schon von Weitem, dass vor Heinzâ Haus Fahrzeuge parkten, die dort nicht hingehörten. Sie erkannte Dietrichs grauen Wagen, ein weiteres Zivilfahrzeug und einen Streifenwagen. Entsetzt fragte sie sich, woher die Polizei wusste, dass auch Heinz nicht gut auf Sascha zu sprechen gewesen war. Sie hastete den Gehweg entlang und kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei Streifenpolizisten, ein Mann und eine Frau, aus der Tür traten. Der Mann hielt Heinz, dessen Arme hinter dem Rücken mit SchlieÃen gefesselt waren, am Ellenbogen fest. Dietrich bildete die Nachhut, und hinter ihm im Flur machte Kassandra mehrere Leute aus, die das Haus durchsuchten.
Ohne nachzudenken, stellte sich Kassandra Dietrich und den uniformierten Beamten in den Weg. »Was soll das?«, rief sie. »Sind Sie komplett verrückt geworden?«
Dietrich schob sich an den Beamten vorbei und bedeutete ihnen zu warten. »Schon gut«, sagte er. »Ich kümmere mich drum.« Mit einem gewissen Verständnis im Blick sah er Kassandra an. »Tut mir leid, Frau VoÃ, mir gefällt auch nicht immer, was ich tun muss.«
»Warum tun Sieâs dann? Haben Sie was gegen meine Familie, oder was? Im Sommer nehmen Sie mich aufs Korn, jetzt meinen Onkel. Das ist lächerlich!«
Kassandra wusste, dass sie hysterisch klang und sogar nahe daran war, wirklich hysterisch zu werden. Sie versuchte, Dietrich zu ignorieren, dessen Augen sich verengt hatten und nicht mehr sehr verständnisvoll guckten.
»Heinz, was â¦?« Sie kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Inzwischen war die Polizistin herangekommen und umfasste Kassandras Arm, um sie wegzuschieben. »Lassen Sie mich los!«, fuhr Kassandra sie an. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, dass hier und da in der StraÃe Fenster geöffnet wurden.
»Frau VoÃ!«, donnerte Dietrich so laut, dass sowohl Kassandra als auch die Polizistin zusammenzuckten. Nur Heinz blieb seltsam unbeteiligt und schien gar nicht mitzubekommen, was sich um ihn herum abspielte. »Gehen Sie nach Hause und lassen Sie uns unsere Arbeit machen«, sagte Dietrich im Gegensatz zu eben gefährlich leise. »Sonst muss ich Sie ebenfalls festnehmen, weil Sie eine Amtshandlung stören.«
Hilflos
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