Fischland-Rache
meinetwegen. Ich danke dir.« Sie umarmte ihn und wünschte beiden gute Nacht.
Daraus allerdings wurde nichts. Kassandra wachte auf, weil Paul sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte.
»Denkst du an deine Mutter?«, fragte sie, »oder an Inga?«
»An alles.« Er setzte sich auf. »Ich störe dich nur, es ist besser, wenn ich ein bisschen an die Luft gehe, vielleicht kann ich danach einschlafen.«
»Du störst mich nie, das weiÃt du.« Bewusst wählte sie dieselben Worte, die Paul vorgestern ihr gegenüber benutzt hatte, was den gewünschten Effekt erzielte.
Paul lächelte. »Hast du zufällig Lust auf einen Nachtspaziergang? Ich könnte Gesellschaft vertragen.«
DrauÃen schlugen sie den Weg zur Seebrücke ein. Am Brückenaufgang passierten sie die Skulptur des Slawengottes Swantewit, nach dem dieser Landstrich ursprünglich einmal benannt worden war: Swante Wustrow â heilige Insel. Von Swantewits vier Köpfen schauten zwei nach links und zwei nach rechts, was Wachsamkeit und Allwissenheit symbolisierte. Kassandra war entschieden der Meinung, dass sie beides gut gebrauchen konnten, doch noch etwas anderes fiel ihr dabei ein: Swantewit war ein grausamer Gott gewesen, der jedes Jahr ein Menschenopfer gefordert hatte. Dieses Jahr übertrieb es der Gott leider â es hatte immerhin schon zwei gewaltsame Todesfälle in Wustrow gegeben.
»Fast wie im Sommer«, sagte Paul, der offenbar seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen nachgegangen, aber zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt war. »Nur Jonas fehlt zur Wiederholung unseres konspirativen Treffens an der mitternächtlichen Seebrücke.«
»Wir können ja Bruno herbestellen, der ist schlieÃlich noch nicht über alles informiert.«
»Wer weiÃ, vielleicht steht er mit seiner Angel sowieso schon vorn am Brückenkopf. Ist eine gute Jahreszeit für Dorsche.«
Bei sternenklarer Nacht schlenderten sie die Brücke entlang. Es war kalt, aber der Wind hatte sich gelegt, und die See plätscherte gemächlich an den Wellenbrecher.
»Wollen wir reden oder lieber versuchen abzuschalten?«, fragte Kassandra.
»Ich fürchte, ich kann gar nicht abschalten. Ingas Alibi macht mir ein bisschen zu schaffen, so schwer es mir fällt, das zu sagen.«
»Verstehe ich. Theoretisch hätte sie genau wie Clemens genug Zeit gehabt, im Hotel einzuchecken, anschlieÃend nach Wustrow zu fahren, Sascha zu töten und wieder zurückzufahren, um morgens um sieben in aller Gemütsruhe auszuchecken. AuÃerdem sind da noch ein paar andere offene Fragen.«
Paul blieb stehen und lehnte sich ans Brückengeländer. »Ich weiÃ. Sascha war am Dienstagabend im âºFischLänderâ¹Â â wahrscheinlich Ingas wegen, das hatten wir ja schon festgestellt. Und schlieÃlich Svens Bemerkung. Wenn seine Beschreibung der Frau, die er damals mit Sascha gesehen hat, auch eher vage war: Sie hätte Inga sein können.«
»Wenn sie es war, dann auf jeden Fall vor ihrer Zeit im Gefängnis«, warf Kassandra ein. »Sven sagte ja, es könne schon acht Jahre her sein.«
Paul nickte. »Da ist nur eins, was mich irritiert: Weshalb sollte Inga damals mit jemandem krumme Sachen gemacht haben, der ihrem Vater so übel mitgespielt hat? Wir reden hier ja nicht vom Kauf des Hauses, in dem sie ihr Restaurant hat. Das war für sie ein ziemlich gutes Geschäft, wahrscheinlich durchdacht von ihr eingefädelt. Auch wenn sie was anderes behauptet, könnte ich mir vorstellen, dass Dietrichs unausgesprochen gebliebene Vermutung berechtigt ist: Sie hat Sascha erpresst, um günstig an das Haus zu kommen. Wie auch immer, wir reden von einer Zeit, die viel länger zurückliegt, und aus den Unterlagen in ihrer Wohnung geht eindeutig hervor, dass sie schon von der Verbindung zwischen Sascha und ihrem Vater wusste, als sie noch als Ina Lange in der Bank gearbeitet hat.«
Kassandra starrte zum Leuchtfeuer, das weit hinten seine hellen Signale aussandte. »Gute Frage. Vielleicht hat sie sich erst mal nur an Sascha heranpirschen, sein Vertrauen gewinnen wollen. Oder ihr waren andere Dinge zu dem Zeitpunkt wichtiger als Rache, vielleicht wollte sie schlicht Geld. Laut Dietrich hat sie ja eine ganze Menge getan, was ein sehr hohes Maà an Intelligenz erforderte, vermutlich sogar Dinge, die ihr schlussendlich nicht nachgewiesen
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