Fish im Trüben
Ausbruch plant. Unauffällig bleiben, keine Wellen schlagen. Der geborene passive Widerständler. An einer großen staatlichen High-School hätte er in Ruhe machen können, was er wollte.«
»Und was war das?«
»Ich weiß nicht, aber jedes Kind, das so sehr darum bemüht ist, unsichtbar zu bleiben, muß irgendein Geheimleben fuhren.«
Soweit ich mich erinnerte, waren Geheimleben in Harbourside nicht unbekannt: Vor einigen Jahren hatten die Bullen einen Ring von Oberschülern gesprengt, die Ausweise fälschten, damit sie in Trendkneipen trinken und Mädchen aufreißen konnten.
Ich dankte ihm und fragte, ob ich mit einem der engen Freunde des Jungen sprechen könne, aber er hatte anscheinend keine. Statt dessen wurde ich zum Klassensprecher gebracht, einem großen, kräftigen, wohlerzogenen und redegewandten Jugendlichen, der vielleicht sogar den perfekten Harbourside-Akzent besaß. Julian Braithwaite verfügte über tadellose Führungseigenschaften — keinen Humor, unerschütterliches Selbstbewußtsein und absolute Phantasielosigkeit.
»Somers paßte hier nicht hin«, sagte er und hörte sich dabei wahrscheinlich genauso an wie sein Vater.
»Warum?«
»Er war fachlich nicht sehr helle, und er interessierte sich nicht fürs Rudern. Er wollte einfach nicht mitmachen.«
»Vielleicht war das nicht sein Fehler?«
Er war sauer. »Es gibt hier alle möglichen Kurse für durchschnittliche Schüler; man muß kein Genie sein. Er belegte nie einen davon. Er versuchte es nicht einmal.«
»Aber er hatte keinen einzigen Freund«, sagte ich. »Ist das nicht ein bißchen ungewöhnlich, selbst für einen Dummkopf?«
Er wurde rot. Meine Sticheleien hatten endlich seine Deckung unterlaufen. »Sie können der Schule nicht vorwerfen, daß Sean Somers ein Versager war. Er gehörte einfach nicht zu uns. Wenn sie jemandem Vorwürfe machen wollen, dann sehen Sie sich mal seine Mutter an.«
Ich hakte nach. »Was ist mit seiner Mutter?«
Aber er wußte, daß er zu weit gegangen war: Es war o.k., ein Snob zu sein, aber heutzutage mußte man sich sein Publikum gut auswählen. »Ich glaube, ich muß jetzt gehen«, sagte er und schüttelte mir die Hand mit der synthetischen Wärme eines Versicherungsvertreters oder eines Politikers, der sich zur Wiederwahl stellt.
Ich beobachtete, wie er mit großen Schritten zu seiner Klasse zurückging, bar jeglicher Selbstzweifel und sich seines Platzes im Universum völlig sicher, und ich fragte mich, ob diese Kinder die Aufgeblasenheit mit der Muttermilch einsogen oder in der Schule lernten. Wenn Julian Braithwaite ein Geheimleben führte, dann spielte sich das im >Playboy< ab.
Während ich über die Hafenbrücke fuhr, dachte ich über die Dummheit von Eltern nach, die ihre Seelen dafür verkauften, daß man ihren Kindern beibrachte, auf sie herabzublicken. Ich dachte auch über die Art von Elternhäusern und Schulen nach, in denen Kinder erst explodieren mußten, um bemerkt zu werden. Das führte zu einigen Erinnerungen an mein Leben im Elternhaus und mein Verhältnis zu meinen Eltern, und ich kam zu dem Schluß, daß ich wirklich kein Recht hatte, mir ein Urteil zu erlauben.
Aber wo zum Teufel steckte er?
In meinem Büro war eine Nachricht von Seans Lehrer: Er hatte herumgefragt, und ein paar Kinder hatten Sean anscheinend gelegentlich an der Pymble Station mit einem Jugendlichen gesehen, der eine Turramurra-High-School-Uniform trug. Vielleicht hatte er doch einen Freund.
Also rief ich den Direktor der Turramurra-High-School an, erklärte die Situation und fragte, ob noch einer von Sean Somers alten Lehrern da sei. Bei den vielen Lehrern, die aus dem System ausstiegen, um ins Immobiliengeschäft zu gehen oder in den Blue Mountains Kräuter zu ziehen, war ich nicht optimistisch. Er sagte, die Schule sei groß, und er müsse die Akte des Jungen durchsehen, und er würde auf mich zurückkommen.
Statt dessen rief eine Frau namens Cathy Cartwright an. Sie hatte den Jungen ein Jahr lang in Gemeinschaftskunde unterrichtet, bevor er zur Harbourside ging.
»Worum geht es denn überhaupt?« fragte sie.
»Der Junge ist verduftet, und die Eltern wollen ihn zurückhaben.«
»Das überrascht mich nicht. Daß er abgehauen ist, meine ich. Ein sehr entfremdeter kleiner Mensch war das. Können wir darüber unter vier Augen sprechen?«
Ich war einverstanden. Ihre Stimme hatte eine große, athletische Frau mit honigblondem Pferdeschwanz und guten Zähnen heraufbeschworen. In Wirklichkeit war sie, als
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