Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
antwortete ich steif. Niemand hatte je die Kaltblütigkeit besessen, mir eine solche Frage zu stellen.
»Was, überhaupt nicht? Aber du warst fünf Jahre alt. Du musst
doch irgendetwas von ihr im Gedächtnis behalten haben - die Farbe ihres Haares, ihre Stimme, Kosenamen …« Wonach hungerte sie eigentlich so schmerzvoll? Und war es vielleicht genau die Befriedigung ihrer Neugier, die sie so fürchtete?
Tatsächlich, für den Bruchteil einer Sekunde wehte mich etwas aus der Vergangenheit an. Ein Hauch von Minze, oder war es … und schon war es vorbei. »Nichts, Mylady. Hätte sie gewollt, dass ich mich an sie erinnere, hätte sie mich bei sich behalten, nehme ich an.« Ich verschloss mein Herz. Einer Mutter, die mich nicht wollte, die nie einen Versuch gemacht hatte, ihr Kind wiederzufinden, schuldete ich nichts!
»Nun gut.« Philia schien zu merken, dass wir mit unserem Gespräch auf unsicheres Terrain geraten waren. Sie starrte durch das Fenster in einen grauen Tag hinaus. »Jemand hat sich immerhin die Mühe gemacht, dir einiges beizubringen«, bemerkte sie dann plötzlich mit aufgesetzter Munterkeit.
»Fedwren.« Als sie schwieg, fügte ich hinzu: »Der Hofschreiber, wisst Ihr. Ich könnte bei ihm Lehrling werden. Er findet, ich habe eine gute Schrift, und lässt mich Illustrationen kopieren. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, heißt das. Ich habe andere Pflichten, und er ist oft unterwegs, auf der Suche nach geeigneten Papiergräsern.«
»Papiergräsern?«, fragte sie zerstreut.
»Er hat ein besonderes Papier. Es waren etliche Größen und Stärken, aber nach und nach hat er es aufgebraucht. Vor Jahren kaufte er es von einem Händler, der es von einem anderen Händler hatte und dieser wiederum von einem anderen, so dass er nicht weiß, woher es ursprünglich kam. Aber nach allem, was er in Erfahrung bringen konnte, wurde es aus gehäckseltem Riedgras hergestellt. Das Papier ist von erheblich besserer
Qualität als unseres. Es ist dünn, biegsam und wird mit den Jahren nicht brüchig. Außerdem lässt es sich gut beschreiben, ohne dass die Tinte sich hineinsaugt und die Linien der Runen verlaufen. Fedwren sagt, wenn wir dieses Papier nachmachen könnten, würde das große Veränderungen bewirken. Mit gutem, festem Papier wäre es möglich, die gesamte Bevölkerung an den Wissenschaften teilhaben zu lassen. Wäre Papier billiger, könnten mehr Kinder lesen und schreiben lernen. Ich begreife nicht, weshalb er …«
»Ich wusste nicht, dass jemand hier mein Interesse teilt.« Das Gesicht der Prinzessin hellte sich auf. »Hat er versucht, Papier aus gemahlener Lilienwurzel herzustellen? Ich habe damit einigen Erfolg gehabt. Und auch mit Papier aus einem Filz von Rindenbast des Kinuebaums. Es ist dauerhaft, biegsam, aber die Oberflächenbeschaffenheit lässt zu wünschen übrig. Anders als bei diesem Papier …«
Mit gerunzelter Stirn befühlte und begutachtete sie die Bögen, die sie in der Hand hielt. Nach kurzem Schweigen fragte sie zögernd: »Du liebst den Hund sehr?«
»Ja«, antwortete ich schlicht, und plötzlich trafen sich unsere Blicke. Sie starrte mich auf dieselbe geistesabwesende Art an, wie sie oft aus dem Fenster schaute. Auf einmal schwammen ihre Augen in Tränen.
»Manchmal bist du ihm so ähnlich, dass …« Sie schluckte. »Du hättest mein Kind sein sollen! Es ist ungerecht, du hättest mein Kind sein sollen!«
Die Worte brachen mit solcher Leidenschaft aus ihr heraus, dass ich glaubte, sie würde mich schlagen. Stattdessen sprang sie auf mich zu und drückte mich an sich. Dabei trat sie auf ihren Hund und warf eine volle Vase um. Der Hund sprang jaulend
auf, die Vase zerbrach, Wasser spritzte, Scherben flogen, und die Stirn der Prinzessin traf mich unter dem Kinn, so dass ich einen Moment lang Sterne sah. Bevor ich etwas tun konnte, warf sie sich herum, stieß einen Schrei wie von einer verbrühten Katze aus und flüchtete in ihr Schlafgemach. Die Tür knallte zu.
Die ganze Zeit über hatte Lacey ruhig weitergehäkelt.
»So ist sie manchmal«, meinte sie gütig. »Du gehst jetzt besser, aber komm morgen wieder.« Und lächelnd fügte sie hinzu: »Weißt du, Prinzessin Philia hat dich sehr ins Herz geschlossen.«
KAPITEL 14
GALEN
G alen, Sohn eines Webers, kam als Junge nach Bocksburg. Sein Vater war einer von Königin Desiderias Leibdienern, der ihr von Farrow in ihre neue Heimat folgte. Solizitas war damals Gabenmeisterin in Bocksburg. Sie hatte König Wohlgesinnt und seinen
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