Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Frühlings in der Luft, rüstete man sich in der Hafenstadt vor den Piraten, denn mit dem milden Wetter tauchten auch sie wieder auf. Ich hatte mir wieder angewöhnt, mein Abendessen bei den Soldaten einzunehmen, und lauschte aufmerksam den Gesprächen. Im ganzen Land trieben Banden von Entfremdeten ihr Unwesen, und die Geschichten von ihren Gräueltaten waren in aller Munde. Als Räuber waren sie schlimmer und erbarmungsloser als jedes wilde Tier. Angesichts dessen war es nicht schwierig zu vergessen, dass es sich um Menschen handelte, und sie zu hassen wie sonst nichts auf der Welt.
Im gleichen Maße wuchs die Angst, selbst entfremdet zu werden. Händler boten Müttern für ihre Kinder mit Zucker ummantelte
Giftpillen an, für den Fall, dass die Familie den Roten Korsaren in die Hände fallen sollte. Gerüchte kursierten, dass in Dörfern an der Küste Fischer und Kaufleute ihren gesamten Besitz auf Ochsenkarren packten und landeinwärts zögen, um als Bauern oder Jäger ihr Brot zu verdienen. Tatsächlich sah man in der Stadt immer mehr Bettler. Einmal tauchte sogar ein Entfremdeter auf und wanderte durch die Straßen, und niemand behelligte ihn, als er sich dreist an den Marktständen bediente. Doch schon am nächsten Tag war er verschwunden, und man raunte, dass wohl schon bald sein Leichnam am Strand angespült werden würde. Andere Gerüchte besagten, man hätte für Veritas eine Braut vom Bergvolk gefunden. Einige mutmaßten, dies sollte das Wegerecht über die Berge garantieren; andere meinten, wir könnten uns keinen potenziellen Feind im Rücken leisten, während wir vom Meer her die Angriffe der Piraten fürchten mussten. Doch es waren noch mehr und weniger erfreuliche Gerüchte im Umlauf, so dass zum Beispiel mit Prinz Veritas nicht alles zum Besten stünde. Müde und krank sei er, hieß es, aber man vermutete dahinter gleichzeitig einen nervösen und ängstlichen Bräutigam. Einige wenige lästerten, er hätte angefangen zu trinken und ließe sich eben nur tags sehen, wenn seine Kopfschmerzen am schlimmsten wären.
Das Gerede über Veritas traf mich mehr, als ich gedacht hätte. Kein Mitglied der königlichen Familie hatte mir je sonderlich viel menschliche Anteilnahme entgegengebracht. Listenreich gab mir im Austausch für meine Loyalität ein Heim und eine Erziehung, so dass ich nicht einmal daran denken konnte, mir anderswo ein eigenes Leben aufzubauen. Edel verabscheute mich, und ich hatte längst gelernt, seinen gehässigen Blicken und den heimtückischen Stößen und Knüffen auszuweichen, die
früher genügt hatten, einen kleinen Jungen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Doch Veritas war immer freundlich zu mir gewesen, zwar auf eine geistesabwesende Art, aber immerhin teilte ich seine Liebe zu Pferden, Hunden und Falken. Ich wünschte mir, ihn bei seiner Vermählung stolz und aufrecht zu erleben, und träumte davon, ähnlich wie jetzt Chade hinter Listenreichs Thron, eines Tages hinter seinem Thron zu stehen. Deshalb hoffte ich auf sein Wohlergehen, gleichwohl hätte ich in einem anderen Fall auch nichts tun können. Es ergab sich nicht einmal die Gelegenheit, ihn zu sehen. Selbst wenn unser Tagesablauf der Gleiche gewesen wäre, wir bewegten uns in unterschiedlichen Kreisen, so dass unsere Wege sich höchst selten kreuzten.
Noch immer hatte der Frühling den Winter nicht ganz besiegt, da überraschte Galen uns mit seiner Ankündigung. Überall in der Burg traf man Vorbereitungen für das Frühlingsfest. Die Marktbuden wurden mit Sand gescheuert und in leuchtenden Farben frisch gestrichen. Man schnitt Zweige ab und legte sie zum Trocknen aus, damit ihre aufspringenden Knospen und zarten Blättchen zum Frühlingsbeginn die Festtafel schmücken konnten. Doch nicht dieses erste junge Grün und die mit Carrissamen bestreute Eierkuchen hatte Galen für uns im Sinn, auch nicht Puppentheater oder Jagdtänze. Nein, zum Anbruch der neuen Jahreszeit sollten wir geprüft werden, um uns der Gabe entweder als »würdig« oder als »ungenügend« zu erweisen.
»Ungenügend«, wiederholte er, und selbst wenn das für die Ärmsten das Todesurteil gewesen wäre, hätte er sich der Aufmerksamkeit seiner Schüler doch nicht sicherer sein können. Vor Schrecken beinahe erstarrt, versuchte ich mir klarzumachen, was es für mich bedeutete, wenn ich versagte. Ich glaubte nicht an eine gerechte Behandlung seinerseits, und ich glaubte
genauso wenig daran, dass ich die Prüfung bestehen konnte, selbst wenn ich ihn
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