Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
den Alltag des Burglebens ein wie seit Monaten nicht mehr. Ich staunte, was alles meiner Aufmerksamkeit entgangen war, weil ich an nichts anderes mehr gedacht hatte als an die Gabe. Die Brautsuche für Veritas war das hauptsächliche Gesprächsthema. Wie zu erwarten, hörte man die üblichen derben Zoten sowie verständnisvollen Kommentare, dass es ein Unglück sei, ausgerechnet Edel als Brautwerber zu haben. Dass bei der Eheschließung politische Erwägungen im Vordergrund standen, war nie bezweifelt worden; eine Liebesheirat kam für einen königlichen Prinzen nicht infrage. Deshalb war seinerzeit Chivalrics starrsinniges Werben um Philia ein solcher Skandal gewesen. Sie war die Tochter eines unserer eigenen Barone und
ihr Vater schon von jeher dem Königshaus treu ergeben. Diese Heirat hatte dem Reich weder diplomatische noch handfeste Vorteile gebracht.
Veritas würde der Staatsräson kein Schnippchen mehr schlagen können. Angesichts der Bedrohung durch die Roten Korsaren musste diesmal die Brautwahl mit größter Sorgfalt durchgeführt werden. Kein Wunder, dass die Gerüchteküche brodelte. Wer würde es sein? Eine Frau von den Nahen Inseln, nördlich von uns im Weißen Meer? Die Inseln waren kaum mehr als felsige Auswüchse der irdischen Gebeine, die aus dem Wasser ragten, doch Signaltürme auf einigen davon konnten als ausgezeichnetes Frühwarnsystem dienen, wenn Piraten in unsere Gewässer eindrangen. Im Südwesten hinter der Regenwildnis, das ein Niemandsland war, lagen die Gewürzküsten. Eine Verbindung mit einer Prinzessin von dort brachte zwar keine militärischen Vorteile, doch einiges sprach für die lukrativen Handelsabkommen, die man sich davon erwarten konnte. Südlich und östlich von uns, weit draußen im Meer, befand sich der große Archipel, wo Bäume wuchsen, die der Wunschtraum eines jeden Bootsbauers waren. Ließ sich dort eine Königstochter finden, die von sich aus und bereitwillig Sonne, blauen Himmel und Blütenduft gegen eine düstere Festung in einem felsigen, von Eis umschlossenen Land eintauschte? Was würde man dort als Gegengabe für eine sanfte Inselschönheit und die hohen Bäume ihrer Heimat verlangen? Pelze, sagten die einen, Getreide meinten die anderen. Dann waren da noch die Königreiche der Berge und die Pässe zu den sich dahinter befindlichen Ebenen. Eine Prinzessin solcher edlen Herkunft brachte als Mitgift Krieger ihres Volkes mit ein, dazu ließen sich damit Handelsbeziehungen zu den Elfenbeinschnitzern und Rentierhirten der Tundra herstellen.
Ein Pass an der Südgrenze dieser Königreiche führte zum Oberlauf des mächtigen Regenflusses, der in zahlreichen Windungen die Regenwildnis durchströmte. Jeder Soldat kannte die alten Geschichten von den verlassenen Tempeln an den Ufern jenes Flusses, die voller Schätze sein sollten und von den Götterstatuen, die unbeirrt über ihre heiligen Quellen wachten, und nicht zuletzt von dem Gold, das buchstäblich vom Grund der kleineren Flussarme hervorglitzerte. Also vielleicht eine Bergprinzessin?
Jede einzelne Alternative wurde lebhaft diskutiert, und das mit sehr viel mehr politischem Scharfblick und Sachverstand, als Galen es diesen einfachen Soldaten zugetraut hätte. Ich schämte mich, daran zu denken, wie schnell Galen mich dazu gebracht hatte, sie als unwissende Schwertträger und dumme und hirnlose Muskelprotze zu sehen. Gerade ich hätte es besser wissen müssen. Nein, ich hatte es besser gewusst, aber weil ich danach hungerte, jemand zu sein, und niemand mein Recht auf den Platz im Kreis der Auserwählten bezweifeln sollte, war ich bereit gewesen, jeden Unsinn zu glauben, den er uns auftischte. Erst jetzt durchschaute ich das Spiel - man hatte mich mit der Aussicht auf Wissen gekauft wie einen anderen Mann mit Geld.
Ich hatte also nicht mehr unbedingt die beste Meinung von mir selbst, als ich die Treppe zu meinem Zimmer hinaufstieg, und ging mit dem Entschluss zu Bett, mir künftig nichts mehr von Galen einreden zu lassen und mir auch selbst nichts mehr vorzumachen. Außerdem nahm ich mir fest vor, die Beherrschung der Gabe zu erlernen, mit wie viel Schmerzen oder Schwierigkeiten das auch verbunden sein mochte.
Am nächsten Morgen stürzte ich mich also verbissen und ehrgeizig wieder in meine Lektionen. Ich prägte mir jedes Wort
Galens ein, und ich ging bei jeder geistigen oder körperlichen Übung bis an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit. Doch als die Woche und danach auch bald noch der Monat vorüber war,
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