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Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher

Titel: Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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Lust hatte, brauchte ich nicht einmal hineinzugehen und sie zu begrüßen. Ich konnte mich frei entscheiden.
    Wie es sich aber schließlich herausstellte, waren die Entscheidungen bereits gefällt, und ich wurde nicht gefragt.
    Ich kam gerade rechtzeitig, um Molly an Jades Arm weggehen zu sehen. Ihre Köpfe waren eng zueinander geneigt, während sie sich halblaut unterhielten. Vor der Ladentür blieb er stehen, um sie anzusehen, und sie erwiderte seinen Blick. Und als er, der Mann, die Hand ausstreckte und zärtlich ihre Wange berührte, war Molly plötzlich eine Frau - eine Frau, die ich nicht kannte. Zwei Jahre Altersunterschied zwischen uns erschienen plötzlich wie eine riesige Kluft, die zu überbrücken ich niemals hoffen konnte. Mit gesenktem Kopf wich ich hinter die Hausecke zurück, um von den beiden nicht entdeckt zu werden. Aber sie hätten mich nicht bemerkt. Ihr Kopf lag an seiner Schulter,
und sie gingen langsam an mir vorbei, so als wäre ich nur ein Baum oder ein Stein. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie beide nicht mehr zu sehen waren.
    In dieser Nacht betrank ich mich sinnlos und erwachte am nächsten Morgen zwischen einigen Büschen auf halbem Weg zur Burg.

KAPITEL 18
    GESELLENPRÜFUNG
    C hade Irrstern, persönlicher Ratgeber von König Listenreich, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in dem Zeitraum unmittelbar vor Ausbruch der Korsarenkriege durch ein Experiment das Phänomen der Entfremdung zu erforschen. Folgende Zeilen sind ein Auszug aus seinen Aufzeichnungen:
    »Netta, die Tochter des Fischers Gill und der Bäuerin Rada, wurde am siebzehnten Tag nach dem Frühlingsfest von Roten Korsaren aus ihrem Dorf Gutwasser geraubt. Als Entfremdete kehrte sie drei Tage später zurück. Ihr Vater hatte bei demselben Überfall das Leben verloren, und ihre Mutter, nunmehr allein mit fünf unmündigen Kindern, war dieser zusätzlichen Belastung nicht gewachsen. Netta war zum Zeitpunkt ihrer Entfremdung vierzehn Sommer alt. Sechs Monate nach dem Überfall kam sie in meine Obhut.
    Als man sie mir brachte, war sie schmutzig, zerlumpt und von Hunger und Misshandlungen geschwächt. Ich gab Anweisung, sie zu waschen, zu kleiden und in einem meinen Gemächern benachbarten Zimmer unterzubringen. Ich verfuhr mit ihr wie mit einem wilden Tier, das man zu zähmen wünscht. Jeden Tag brachte ich selbst ihr die Mahlzeiten und blieb bei ihr, während sie aß. Ich sorgte dafür,
dass sie es warm hatte, dass ihr Zimmer saubergehalten wurde und ihr die Annehmlichkeiten zur Verfügung standen, auf die eine Frau Wert legt: Waschwasser, Bürsten, Kämme und allerlei anderes. Zusätzlich ließ ich ihr alles bringen, was man zum Sticken brauchte, denn mir war zu Ohren gekommen, dass sie vor ihrer Entfremdung viel Freude an solchen Handarbeiten gehabt und etliche kunstvolle Stücke angefertigt hatte. All diese Maßnahmen dienten dem Zweck herauszufinden, ob bei fürsorglicher Pflege eine Entfremdete wieder zu ihrem früheren Wesen zurückfinden könnte.
    Das scheueste Reh, selbst ein Wolf, wäre bei dieser Behandlung zugänglicher geworden, doch Netta zeigte sich von allem unbeeindruckt. Sie war in ihrem Verhalten auf eine Stufe unglaublicher Primitivität zurückgesunken. Zum Essen benutzte sie die Hände, und war sie gesättigt, ließ sie die Reste auf den Boden fallen, wo sie zertreten wurden. Die Gebote der Reinlichkeit hatte sie völlig vergessen, sie wusch sich nicht und hielt sich in keinerlei Beziehung sauber. Die meisten Tiere beschmutzen nur einen bestimmten Bereich ihres Lagers, doch Netta glich einer Maus, die auf Schritt und Tritt ihre Exkremente hinterlässt, selbst an ihrem Schlafplatz. Sie konnte sprechen wie ein vernunftbegabter Mensch, sofern ihr der Sinn danach stand oder es etwas gab, das sie unbedingt haben wollte. Äußerte sie sich aus eigenem Antrieb, dann gewöhnlich, um mich zu beschuldigen, ich hätte sie bestohlen, oder mich mit Drohungen zu zwingen, ihr augenblicks diesen oder jenen Gegenstand zu überlassen, den zu besitzen sie sich gerade in den Kopf gesetzt hatte. Grundsätzlich begegnete sie mir mit Argwohn und Hass. Meine Versuche, mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen, ignorierte sie, aber der Entzug von Nahrung und Hunger erwiesen sich dann als probates Mittel, sie zum Sprechen zu bringen. Sie erinnerte sich an ihre Familie, zeigte jedoch kein Interesse am Schicksal ihrer Eltern oder Geschwister. Vielmehr beantwortete sie
diesbezügliche Fragen, als ginge es um das Wetter von gestern. Von

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