Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
menschlichen Vorstellungsgabe sind. Kein warmer Körper, an den ich mich schmiegen konnte, mutterseelenallein und ohne die tröstliche Nähe eines familiären Umfelds. Stattdessen lag ich wach und dachte an meinen Vater und meine Mutter, wie leicht es beiden gefallen war, mich aus ihrem Leben auszuschließen. Ich lauschte dem, was man sich über sie gedankenlos über meinen Kopf hinweg erzählte, und deutete das Gehörte allein und angsterfüllt nach meinem kindlichen Verständnis. Was würde aus mir werden, wenn ich erwachsen war und der alte König Listenreich gestorben? Manchmal überlegte ich, ob Molly Blaufleck und Kerry mich vermissten oder ob sie mein plötzliches
Verschwinden so gelassen hinnahmen wie mein Auftauchen aus heiterem Himmel. Doch am meisten schmerzte mich das Gefühl der Einsamkeit, denn in diesem ganzen großen Gemäuer gab es niemanden, den ich als Freund empfand. Niemand außer den Tieren, und Burrich hatte mir jegliche Nähe zu ihnen verboten.
Eines Abends war ich müde und resigniert zu Bett gegangen, nur um mich weiter mit meinen Ängsten zu quälen, bis ich schließlich doch unwillig vom Schlaf gepackt wurde. Dann weckte mich ein hellgelbes flackerndes Licht, das auf mein Gesicht strahlte. Doch ich wusste, damit konnte etwas nicht stimmen, denn ich hatte noch nicht lange genug geschlafen, um jetzt schon von der Morgensonne geweckt zu werden, die gewöhnlich durch mein Fenster strömte. Unwillig schlug ich die Augen auf.
Er stand am Fußende meines Bettes und trug eine Lampe in der erhobenen Hand. Schon eine solche an sich war eine Seltenheit in Bocksburg, doch viel mehr noch fesselte der Mann selbst meinen Blick. Sein Gewand war aus ungefärbter Schafwolle und sah aus, als sei es in letzter Zeit nicht mehr gewaschen worden. Haar und Bart des Mannes hatten in etwa die gleiche Farbe, weshalb es mir schwerfiel, sein Alter zu schätzen; außerdem machten auch sie einen ähnlich ungepflegten Eindruck. Nun gibt es einige Arten von Ausschlag, die einen Menschen sein ganzes Leben zeichnen können, aber nie zuvor hatte ich ein solch verwüstetes Gesicht gesehen wie bei ihm: Es war übersät von Narben und winzigen Kratern, von fleischig-rosanen und rötlichen Flecken, die wie kleine Brandwunden und sogar im buttergelben Schein der Lampe ganz bleich wirkten. Seine Hände bestanden nur aus Knochen und Sehnen, die von
papierweißer Haut umhüllt schienen. Er starrte mich an, und seine Augen waren von einem unglaublich strahlenden Grün. Sie erinnerten mich an die Augen einer Katze auf der Jagd; die gleiche Mischung aus unschuldiger Freude und Mordlust. Ich zog die Decke bis unters Kinn.
»Du bist wach«, sagte er. »Gut. Steh auf und komm mit.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und schritt statt zur Tür zu einem schattenverhangenen Winkel meines Zimmers zwischen Kamin und Fensterwand. Ich rührte mich nicht. Er schaute sich zu mir um und hielt die Lampe noch ein wenig höher. »Beeil dich, Junge«, mahnte er gereizt und klopfte mit seinem Gehstock gegen den Bettpfosten.
Ich stieg aus dem Bett, der Boden unter meinen bloßen Füßen war eiskalt. Frierend griff ich nach meinen Kleidern und Schuhen, doch er schien nicht gewillt, auf mich zu warten. Wieder sah er über die Schultern, um zu sehen, was mich aufhielt, und der durchdringende Blick genügte, dass ich die Sachen fallen ließ und den Kopf einzog.
Barfuß und nur mit dem Nachthemd bekleidet, folgte ich ihm, aus keinem anderen Grund, als seiner Aufforderung zu folgen. So gingen wir gemeinsam bis zu einer geheimen Tür, die vorher nicht da gewesen war, und stiegen eine enge Wendeltreppe hinauf. Das einzige Licht stammte von der Lampe, die er hoch über seinen Kopf hielt. Ich folgte ihm im Dunkel seines Schattens, und in dem verwirrenden Wechsel von Hell und Dunkel war ich gezwungen, jeden Schritt mühsam mit den Füßen zu ertasten. Die Stufen waren aus kaltem Stein, ausgetreten, glatt gewetzt und auffallend ebenmäßig. Es ging hinauf und immer weiter hinauf, bis ich glaubte, dass wir höher gestiegen sein mussten als jeder Turm, den die Burg besaß. Ein kalter Luftzug
strömte von unten durch den Schacht und strich über meine Beine, aber nicht allein deswegen fror ich. Und immer folgte der Treppe eine weitere Windung, bis mein geheimnisvoller Führer eine Tür aufstieß, die ich diesmal deutlich vor Augen hatte, die sich aber dennoch gespenstisch lautlos in den Angeln drehte. Wir traten in ein Zimmer.
Dort verbreiteten verschiedene Lampen,
Weitere Kostenlose Bücher