Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
erscheint die ganze Geschichte als halb so schlimm. Man preist die Tapferkeit der braven Menschen, die lieber kämpfend untergingen, als sich zu er geben. Nicht einer, nicht ein einziger der Einwohner wurde verschleppt und entfremdet. Nicht ein einziger.« Der Narr verstummte. Ein Unterton von Hysterie mischte sich in die gezwungene Nüchternheit seiner Stimme. »Natürlich, beim Umtrunk in geselliger Runde hat man nicht das Blut vor Augen. Oder riecht auch nicht das brennende Fleisch. Oder hört nicht die Schreie. Aber das ist verständlich. Habt Ihr je versucht, einen Reim auf ›zerstückeltes Kind‹ zu finden? Irgendjemand kam auf ›klagender Wind‹, aber dadurch wurde das Lied auch nicht besser.« In seinem Wortschwall lag keine Spur von Heiterkeit. Seine bitteren Scherze vermochten weder ihn noch mich vor dem Schrecken abzuschirmen. Wieder verfiel er
in Schweigen, als ob er mein Ge fangener wäre und dazu verurteilt, dieses quälende Wissen mit mir zu teilen.
Stumm verfolgte ich das Geschehen. Keine Liedzeile berichtete davon, wie Vater oder Mutter ihrem Kind kleine Giftkügelchen in den Mund schoben, um es nicht in die Hände der Korsaren fallen zu lassen. Welches Lied wollte von den Kindern singen, die sich schreiend unter den Krämpfen des schnell wirkenden Giftes wanden, oder von den Frauen, die, während sie sterbend am Boden lagen, missbraucht wurden. Kein Liedreim und keine Melodie vermochte eine Vorstellung von den Bogenschützen zu vermitteln, deren beste Pfeile gefangene Freunde töteten, bevor sie fortgeschleppt werden konnten. Ich blickte in das In nere eines brennenden Hauses. Durch die Flammen beobachtete ich einen zehn Jahre alten Knaben, der seine Kehle für den Streich des Messers in seiner Mutter Hand entblößte. Er hielt dabei sein bereits erwürgtes Schwesterchen an sich gedrückt, denn die Roten Schiffe waren gekommen, und kein liebender Bruder würde sie den Mördern oder den gierigen Flammen überlassen. Ich sah die Augen der Mutter, als sie die toten Leiber ihrer Kinder aufhob und mit ihnen im Feuer verschwand. An solche Bilder erinnert man sich nicht gerne, doch mir blieb es nicht erspart. Es war mei ne Pflicht, diese Dinge zu wissen und im Gedächtnis zu behalten.
Nicht alle kamen ums Leben. Manchen gelang die Flucht in die umliegenden Felder und Wälder. Ein junger Mann verbarg sich mit vier Kindern unter der Pier, wo sie sich an die muschelbesetzten Pfähle klammerten, bis die Korsaren verschwunden waren. Andere fanden während der Flucht den Tod. Ich sah eine Frau aus einem brennenden Haus schlüpfen. Flammen züngelten bereits an der Ecke des Gebäudes empor. Sie trug ein Kind auf den Armen, ein zweites klammerte sich an die Falten ihres langen Nachthemds. Ihr Haar glänzte im Fackelschein. Sie schaute
sich ängstlich nach allen Seiten um, doch in der freien Hand hielt sie stoßbereit ein langes Messer. Ich erhaschte einen Blick auf die kämpferische Miene und die grimmig zusammengepressten Lippen. Dann, für ei nen kurzen Moment, zeichnete sich das stolze Profil der Frau deut lich vor dem hellen Feuerschein ab. »Molly!«, ächzte ich und streckte meine knochige Altmännerhand nach ihr aus. Sie bückte sich, hob eine Klappe auf und scheuchte die Kinder in ei nen Erd keller hinter dem lichterloh bren nenden Haus, dann senkte sie die Brettertür behutsam über sich und ihnen allen. War das die Rettung?
Nein. Ein Mann und eine Frau bogen um die Ecke. Der Mann trug eine Axt. Gemächlich und laut lachend gingen sie mit wiegenden Schritten voran. Die Zähne und das Weiß ihrer Augen leuchteten grell in den rußgeschwärzten Gesichtern. Die Frau war sehr schön, eine Kriegerin. Furchtlos. Ihr Haar war mit Silberdraht durchflochten und sprühte im Feuerschein rötliche Funken. Bei der Tür des Erdkellers blieben die Korsaren stehen, der Mann schwang die Axt hoch über den Kopf und ließ sie niedersausen. Die Schneide fuhr tief in das Holz, dem dumpfen Schlag antwortete der angstvolle Aufschrei einer Kinderstimme aus der Tiefe. »Molly!«, stöhnte ich und raffte all meine Kraft zusammen, um aufzustehen, aber meine Beine trugen mich nicht. Ich kroch zu ihr hin.
Die Tür brach ein, und die Korsaren lachten. Der Mann starb in seinem Lachen, als Molly aus der Öffnung sprang und ihm das Messer direkt in den Hals stieß. Aber die wunderschöne Frau mit dem blinkenden Silber im Haar hatte ein Schwert. Und wäh rend Molly sich be mühte, dem Sterbenden das Messer aus der Wunde zu ziehen,
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