Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
Besonders im Winter. Der Winter war eine harte Zeit für sie. »Ich bin so froh, wenn wieder Sommer ist und wir zusammen im Garten Spaziergänge machen können«, sagte ich zu ihr.
Einen Moment schaute sie mich schweigend an. »Ich habe etwas Schweres, das zu mei nen Gemächern hinaufgetragen werden müsste. Würdest du mir helfen?«
»Gewiss.« Ich stand vorsichtig auf. »Ich muss gehen«, erklärte ich der kleinen Dienstmagd. »Mei ne Mutter braucht mich. Dein Lied hat mir gefallen.«
»Auf Wiedersehen, Herr«, zwitscherte sie, und Lacey warf ihr deswegen einen vernichtenden Blick zu. Philias Wangen hatten sich leicht gerötet. Ich folgte ihr durch die Ebbe und Flut der Feiernden bis zum Fuß der Treppe.
»Ich wusste schon gar nicht mehr, wie man rich tig feiert«, sagte ich bedauernd. »Und wo ist die schwe re Last, die ich nach oben tragen soll?«
»Das war ein Vorwand, um dich aus der Halle zu locken, bevor du Zeit hattest, dich gänzlich unmöglich zu machen!«, zischte sie mich an. »Was ist mit dir? Wie konntest du dich so unschicklich benehmen? Bist du betrunken?«
Ich dachte über die Frage nach. »Nachtauge sagt, ich hätte schlechten Fisch gegessen. Aber ich fühle mich gut.«
Lacey und Philia musterten mich kritisch, dann nahmen sie mich links und rechts am Arm und führten mich die Treppe hinauf. Philia machte Tee. Ich plauderte mit Lacey. Ich erzählte ihr, wie sehr ich Molly liebte und dass ich sie hei raten würde, sobald König Listenreich seine Zustimmung dazu gab. Sie tätschelte meine Hand und befühlte meine Stirn und fragte, was ich heute gegessen hatte und wo. Ich konnte mich nicht erinnern. Philia gab mir Tee. Bald danach musste ich mich erbrechen. Lacey flößte mir
kaltes Wasser ein. Philia brachte mir noch ei nen Becher Tee. Ich übergab mich wieder. Ich sagte, ich wollte keinen Tee mehr. Philia und Lacey stritten ein wenig darüber. Dann sagte Lacey, ihrer Meinung nach brauchte ich jetzt nur etwas Schlaf, worauf sie mich in mein Zimmer zurückbrachte.
Als ich erwachte, hatte ich keine klare Vorstellung davon, was von all dem Traum gewesen war und was Wirklichkeit. Die Ereignisse des Abends, soweit ich mich an sie erinnern konnte, erschienen mir so fern, als lägen sie Jahre zurück. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch das gelbe Licht, das durch die offene Geheimtür hereinleuchtete und durch den Luftzug aus dem Treppenschacht, der kalt ins Zim mer wehte. Ich kroch aus dem Bett, blieb einen Moment schwankend stehen, bis ich das Schwindelgefühl überwunden hatte, und stieg dann schwerfällig die Treppe hinauf. Ich hatte dabei immer eine Hand an der klam men Steinmauer, um mich zu vergewissern, dass ich nicht wie der in ei nem Traum befangen war. Auf halbem Weg kam Chade mir entgegen. »Hier, nimm mei nen Arm«, be fahl er, und ich gehorchte. Ge meinsam stiegen wir die letzten Stufen hinauf. »Ich habe dich vermisst«, sagte ich zu ihm und fügte mit dem nächsten Atemzug hinzu: »König Listenreich ist in Gefahr.«
»Ich weiß. König Listenreich ist stets in Gefahr.«
Wir traten in sein Ge mach. Im Kamin brannte ein Feuer. Daneben war auf ei nem Tablett eine Mahlzeit angerichtet. Dorthin führte er mich.
»Ich glaube, ich bin heute vergiftet worden.« Ein krampfartiges Frösteln durchschüttelte mich. Als es vorbei war, kam es mir vor, als hätte sich ein Teil der Nebelschleier in meinem Kopf aufgelöst. »Ich scheine in Etappen wieder zur Besinnung zu kommen. Immer wenn ich denke, ich bin wach, ist plötzlich alles um ein Stück klarer.«
Chade nickte ernst. »Ich vermute, es war die Asche. Du bist unvorsichtig gewesen, als du in König Listenreichs Gemach Ordnung geschaffen hast. Oft ist in den verbrannten Überresten eines Krauts der Wirkstoff in konzentrierter Form enthalten. An deinen Händen klebte Asche, und wenig später hast du damit Kuchen gegessen. Was sollte ich tun? Ich dachte, du würdest den Drogenrausch ausschlafen. Was ist dir eingefallen, nach unten zu gehen?«
»Ich weiß nicht.« Aus irgendeinem Grund wurde ich plötzlich ärgerlich. »Wie kommt es, dass du immer so gut über alles unterrichtet bist?«, fragte ich mürrisch, während er mich ener gisch in seinen alten Sessel drückte. Er setzte sich auf meinen gewohnten Platz am Ka min. Selbst in mei nem benommenen Zustand fiel mir auf, wie geschmeidig er sich bewegte, als hätte er all die Schmerzen und Gebrechen eines alten Mannes irgendwo zurückgelassen. Der Aufenthalt im Freien hatte seinem
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