Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
Geistesabwesenheit. »Manchmal«, bemerkte er hintergründig, »muss man darauf vertrauen, dass die anderen Menschen wissen, welche Fehler man selbst hat.«
Ich nickte, dann musste ich plötzlich furchtbar gähnen. »Entschuldigung«, murmelte ich. Von einer Se kunde zur anderen wurden mir die Lider so schwer, dass ich kaum den Kopf hoch halten konnte. »Was hast du gesagt?«
»Nichts, unwichtig. Geh zu Bett. Ruhe dich aus. Schlaf ist der beste Heiler.«
»Aber ich habe dich nicht ein mal gefragt, wo du gewesen bist. Oder was du getan hast. Du kommst mir vor, als wärst du zehn Jahre jünger geworden.«
Chade spitzte die Lippen. »Ist das ein Kompliment? Aber lass gut sein. Solche Fragen wären ohnehin sinnlos, also kannst du sie dir für ei nen anderen Tag aufsparen und dich spä ter aufregen, wenn ich mich weigere, sie zu beantworten. Was meine wundersame Verjüngung angeht - nun, je mehr man seinen Körper zwingt, etwas zu leisten, desto mehr kann er leisten. Die Reise war nicht leicht, doch ich glaube, die Anstrengung hat sich gelohnt.« Als ich den Mund aufmachte, hob er Einhalt gebietend seine Hand. »Und mehr werde ich dazu nicht sagen. Zu Bett jetzt, Fitz. Zu Bett.«
Mit der festen Absicht, seinem Rat zu folgen, ging ich die Treppe hinunter. Wie jedes Mal schnappte die Tür zu, kaum dass ich hindurchgetreten war; den Mechanismus dazu hatte ich in all den Jahren, die ich dieses Zimmer bewohnte, nicht entdecken können. Ich warf Holz ins Feuer, dann setzte ich mich auf mein Bett und zog das Hemd über den Kopf. Trotz meiner Müdigkeit bemerkte ich Mollys Duft, der, unter dem Stoff gefangen, jetzt von meiner warmen Haut aufstieg. Einen Moment zögerte ich mit dem Hemd in der Hand, dann zog ich es wieder an, ging zur Tür und schlüpfte in den Flur hinaus.
Nach dem Maßstab einer gewöhnlichen Nacht war es spät, aber dies war die erste Nacht des Winterfestes. Die meisten der Feiernden würden bis zum Morgengrauen nicht ins Bett finden,
und andere würden den Tag in einem anderen Bett als dem eigenen begrüßen. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als mir klarwurde, dass ich drauf und dran war, der letzteren Gruppe anzugehören.
Die Flure und Treppen lagen nicht still und verlassen da, wie sonst zu später Stunde. Gleichwohl waren die meisten von denen, die sich hierher zurückgezogen hatten, entweder zu betrunken oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um von mir Notiz zu nehmen. Und falls mich doch jemand bemerkte und erkannte, nun, so war ich fest entschlossen, mir am nächsten Tag bei neugierigen Fragen das Winterfest als Entschuldigung die nen zu lassen. Trotzdem war ich so dis kret, mich zu vergewissern, dass nie mand zu sehen war, bevor ich an ihre Tür klopfte. Keine Antwort, doch als ich die Hand hob, um nochmals zu klopfen, schwang die Tür lautlos zurück in die Dunkelheit.
Die Angst traf mich wie ein Faustschlag. Ohne ei nen Augenblick des Zweifels war ich überzeugt, dass ihr etwas zugestoßen war, jemand hatte sie überfallen, ihr wer weiß was angetan und dann im Finstern liegenlassen. Ich sprang ins Zimmer und rief ihren Namen. Hinter mir schloss sich plötzlich die Tür, worauf sie mir mit einem kurzen »Pst!«, befahl, ruhig zu sein.
Ich fuhr he rum, aber mei ne Augen brauchten eine Wei le, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Der Schein des Feuers war die einzige Beleuchtung im Raum, und ich stand mit dem Rücken dazu. Als ich endlich etwas erkennen konnte, stockte mir der Atem.
»Hast du mich erwartet?«, brachte ich schließlich heraus.
Mit schnurrender Stimme erwiderte sie: »Nur seit Stunden.«
»Ich dachte, du wärst bei dem Fest in der großen Halle.« Langsam kam mir zu Bewusstsein, dass ich sie dort gar nicht gesehen hatte.
»Ich wusste, man würde mich dort nicht vermissen. Nur einer vielleicht. Und ich dachte, vielleicht würde dieser eine hierherkommen, um mich zu suchen.«
Ich stand nur da und schaute sie an. Sie trug ei nen Kranz aus Stechpalmen auf der lockigen Haarpracht. Sonst nichts. An die Tür gelehnt, bot sie sich meinen Blicken dar. Wie kann ich erklären, wel che Veränderung sich vollzogen hatte? Zuvor wa ren wir gemeinsam ins Unbekannte vorgedrungen, forschend und lernbegierig. Dies war anders. Dies war die selbstbewusste Einladung einer Frau. Gibt es etwas Unwiderstehlicheres als das Wissen, von einer Frau begehrt zu werden? Es war überwältigend und be glückend und sprach mich frei von allen Dummheiten, die ich je begangen
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