Fitz der Weitseher 02 - Der Schattenbote
wird gewebt, zugeschnitten und genäht. Und Veritas ist immer dabei, gibt Anweisungen und sieht nach dem Rechten. Unterdessen sitze ich hier bei unnützen Stickereien, zersteche mir die Finger und verderbe mir bei bei der Kleinarbeit so sehr die Augen, dass ich irgendwann den Blick für das Große verliere. Und das alles nur, damit mein fertiges Werk mit anderem nutzlosem Zierat in irgendeine Ecke gestellt wird.«
»Oh, nicht in die Ecke gestellt, niemals, Hoheit«, meldete sich eine der Hofdamen eifrig zu Wort. »Eure Stickereien sind als Geschenk hochgeschätzt. In Shoaks hängt ein gerahmtes Stück in Lord Shemshys Privatgemächern, und Herzog Kelvar von Rippon …«
Kettrickens Aufseufzen unterbrach die Lobeshymne. »Lieber möchte ich ein Segel nähen, mit dem Pfriem und der gro ßen eisernen Nadel, um ei nes der Schiffe meines Gemahls zu schmü cken. Eine solche Arbeit wäre meiner Zeit würdig, und damit könnte ich seine Achtung gewinnen. Stattdessen gibt man mir Spielzeug, um mich zu beschäftigen, wie einem verwöhnten Kind, das den Wert sinnvoll verbrachter Zeit nicht zu schätzen weiß.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, und ich bemerkte, wie der Rauch von der Werft vor dem Pa norama des Mee res aufstieg. Vielleicht hatte ich mich da rin geirrt, in welche Richtung sie ihre Auf merksamkeit lenkte.
»Soll ich Tee und Kuchen bringen lassen, Hoheit?«, erkundigte sich eine der Kammerzofen hoffnungsvoll. Beide hatten ihre Schals um die Schultern gezogen. Kettricken schien den kalten Luftzug nicht zu spüren, der vom Fenster hereinwehte, doch für ihre Gesellschafterinnen konnte es kaum angenehm sein, sich frierend ihrer Handarbeit widmen zu müssen.
»Wenn Ihr das Bedürfnis verspürt«, antwortete Kettricken gleichgültig. »Ich habe weder Hunger noch Durst. Vielmehr fürchte ich, fett zu werden wie eine Mastgans. Ich sehne mich danach, etwas Nützliches zu tun. Sag mir die Wahrheit, Fitz. Wenn du dich nicht verpflichtet fühltest, mir Gesellschaft zu leisten, würdest du müßig in deinen Gemächern sitzen? Oder dir mit irgendwelchem Schnickschnack die Zeit vertreiben?«
»Nein. Aber ich bin auch nicht die Thronfolgerin.«
»Die Königin, die für den Thron bestimmt ist.« Eine ungewohnte
Bitterkeit schlich sich in ihre Stimme. »Königin … Wie du weißt, sagen wir in meinem Land nicht Königin. Wäre ich jetzt dort und herrschte an mei nes Vaters Stelle, hieße ich ›das geweihte OPFER‹. Mehr noch, ich wäre das OPFER. Zum Besten meines Reiches und meiner Untertanen.«
»Wärt Ihr dort, mitten im Winter, was würdet Ihr tun?« Mei ne Absicht war, dem Gespräch eine erfreulichere Wendung zu geben, was sich als Fehler herausstellte.
Sie schwieg und starrte aus dem Fenster. »In den Bergen«, sagte sie versonnen, »war nie Zeit, die Hände in den Schoß zu legen. Ich war natürlich die Jüngere, und die meisten der Pflichten des OP-FERS entfielen auf meinen Vater und meinen älteren Bruder. Doch wie Jonqui sagt, es gibt immer Arbeit genug für alle und mehr. Hier in Bocksburg wird alle Arbeit von unsichtbaren Dienern getan, und man sieht nur das Ergebnis - das aufgeräumte Zimmer, die Speisen auf dem Tisch. Vielleicht weil hier so viele Menschen sind.«
Ihr Blick verlor sich in der Ferne. »In Jhaampe herrscht im Winter Stille. Der Schnee liegt hoch, und große Kälte überzieht das Land. Die klei neren Wege sind unter den Schneemassen verschwunden. Räder werden durch Kufen ersetzt. Besucher der Stadt sind längst nach Hause zurückgekehrt. Im Palast in Jhaampe sind nur die Familie und solche, die beschlossen haben, zu bleiben und zu helfen. Nicht als Die ner, nein. Du bist in Jha ampe gewesen. Du weißt, dort gibt es nie manden, der nur dient, ausgenommen die königliche Familie. In Jhaampe würde ich früh aufstehen, um Wasser für den Ha ferbrei zu ho len und abwechselnd mit den anderen im Kessel zu rüh ren. Keera, Sennick, Joffron und ich würden in der Küche schwatzen und lachen, und die Kleinen, die hin und her laufen, Feuerholz bringen und die Tische decken, plappern von tausend Dingen.« Ihre Stimme geriet ins Sto cken, und ich lauschte der Stille ihrer Einsamkeit.
Nach einer Weile sprach sie weiter. »Wenn es Arbeit zu tun gab, groß oder klein, packten alle gemeinsam mit an. Ich habe geholfen, die Zweige für eine Scheune zu biegen und zu binden. Selbst im tiefsten Winter habe ich Schnee geräumt und Hand angelegt, wenn es galt, neue Dachbögen für eine Familie
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