Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
verschwand er über der Kante, kam zurück und schaute zu uns hinunter. Gleich darauf erschien der Narr neben ihm und spähte ebenfalls besorgt in die Tiefe. »Braucht ihr Hilfe?«, rief er.
»Nein. Wir schaffen es!«, rief ich zurück. Einen Arm um den Stamm einer Krüppelkiefer gewinkelt, machte ich einen Augenblick Halt, um Atem zu schöpfen und mir den Schweiß aus den Augen zu wischen. Merle blieb hinter mir stehen. Und plötzlich fühlte ich wieder die überwältigende Ausstrahlung der Straße. Sie hatte eine Strömung wie ein Fluss, und wie über einem Fluss die Luft in ständiger Bewegung ist, so auch über der Straße. Dort wehte nicht etwa ein kalter Winterwind, sondern ein Wind verschiedener Leben aus nah und fern. Das fremdartige Fluidum des Narren war darin genauso enthalten wie Krähes unausgesprochene Furcht oder Kettrickens traurige Entschlossenheit. Sie waren so individuell und unterscheidbar wie die Bouquets verschiedener Weine.
»FitzChivalric!« Merle verlieh meinem laut gesprochenen Namen zusätzlichen Nachdruck, indem sie mir mit der Faust zwischen die Schulterblätter boxte.
»Was ist?«, fragte ich sie geistesabwesend.
»Geh weiter! Wenn ich hier noch länger stehe, bekomme ich Wadenkrämpfe!«
»Oh.« Ich setzte mich in Bewegung und kletterte das letzte Stück bis zur Straße hinauf. Die fließende Gabe brachte mir Merle deutlich zu Bewusstsein. Ich konnte - ohne auch nur einen Blick auf sie zu werfen - fühlen, wie sie in dem Geröll ihre Schritte bedachte und sich an der knorrigen Bergweide unterhalb der Kante festhielt. Ich blieb einen Augenblick auf der Böschung stehen, bevor ich den Schritt hinunter auf die glatte Oberfläche der Straße tat und in ihren Sog hineinglitt wie ein Kind in einen Fluss.
Der Narr hatte auf uns gewartet. Kettricken ging an der Spitze der Jeppas und schaute besorgt zu uns zurück, ob wir zu ihr aufschlossen. Ich holte tief Atem und hatte das Gefühl, mich in mir zu sammeln. Nachtauge neben mir stieß mit der Nase gegen meine Hand.
Bleib bei mir, drängte er. Ich spürte, wie er sich bemühte, das Band zwischen uns zu festigen. Dass ich ihm nicht helfen konnte, erschreckte mich. Ich schaute in seine tiefen Augen, und plötzlich kam mir eine Frage in den Sinn.
Du bist auf der Straße. Ich dachte, Tiere könnten die Straße nicht betreten.
Er schnaubte verächtlich. Es besteht ein Unterschied zwischen denken, etwas wäre klug, und es tun. Und dir ist vielleicht aufgefallen, dass die Jeppas bereits seit etlichen Tagen auf der Straße gehen.
Zu offensichtlich. Weshalb wird sie dann von wilden Tieren gemieden?
Weil wir für unser Überleben auf uns selbst angewiesen sind. Die Jeppas sind von Menschen abhängig und folgen ihnen überallhin, auch in die Gefahr. Deshalb haben sie auch nicht genug Verstand, vor einem Wolf davonzulaufen. Lieber flüchten sie zu euch Menschen, wenn ich sie erschrecke. Es ist so ähnlich wie mit Rindern oder Pferden an Flüssen. Von allein schwimmen sie nur hinüber, wenn ihnen der Tod im Nacken sitzt, sei es durch Raubtiere oder Hunger. Doch Menschen bringen sie dazu, über Flüsse zu schwimmen, wann immer der Mensch ans andere Ufer zu gelangen wünscht. Ich halte sie für ziemlich dumm.
Weshalb bist du dann hier?, fragte ich ihn mit einem versteckten Lächeln.
Scherze nicht über Freundschaft, antwortete er ernst.
»Fitz!«
Ich schrak zusammen und drehte mich zu Krähe um. »Mir geht es gut«, beruhigte ich sie, obwohl ich wusste, dass es nicht so war. Die Alte Macht half mir gewöhnlich, jedes andere lebende Wesen in meiner Umgebung wahrzunehmen, doch Krähe war von hinten dicht an mich herangetreten, ohne dass ich es gemerkt hatte. Etwas an der Straße der Gabe wirkte dämpfend auf die Alte Macht. Wenn ich nicht gezielt an Nachtauge dachte, verblasste er in meinem Bewusstsein schnell zu einem vagen Schatten.
Wäre es weniger als das, dann würde ich mich nicht bemühen, bei dir zu bleiben, äußerte er besorgt.
»Schon gut, ich muss nur besser aufpassen«, sagte ich laut und mit beschwichtigender Stimme.
Krähe glaubte, ich spräche zu ihr. »Ja, das möchte ich dir auch raten.« Sie packte meinen Arm und setzte sich mit mir in Bewegung. Die anderen waren bereits vorausgegangen. Merle ging neben dem Narren und sang ein Liebeslied. Er aber schaute sorgenvoll über die Schulter zu mir zurück. Ich nickte ihm zu, und er nickte mit unglücklicher Miene. Krähe zwickte mich in den Arm. »Keine Gedankenspaziergänge. Rede
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