Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
Prophezeiungen, Gerüchte. Damit erschöpft sich jedoch mein Wissen.«
»Und wie kommt es, dass du das alles weißt?«
Sie wandte den Kopf und betrachtete mich mit festem Blick. »Weil es mir genauso wie dir bestimmt ist.«
Das war ihr letztes Wort in dieser Sache. Statt auf meine Fragen noch weiter einzugehen, beschrieb sie mir verschiedene Spielsituationen, und ich musste sagen, welche Züge ich jeweils mit dem schwarzen, dem roten oder dem weißen Stein machen würde. Ich gab mir Mühe, weil ich wusste, sie wollte mir helfen, mich nicht wieder zu verlieren, aber die Macht dieser Straße ließ sich so wenig ignorieren wie ein starker Wind oder eine eisige Strömung. Ich konnte mir vornehmen, nicht darauf zu achten, aber deshalb war das Phänomen nicht verschwunden. Während ich über mögliche Züge nachgrübelte, wunderte ich mich plötzlich über das Muster meiner eigenen Gedanken und war mir nicht mehr sicher, ob es sich um meine eigenen oder um die eines Fremden handelte, an denen ich auf irgendeine Art teilhatte. Sosehr ich mir das Spiel auch vor Augen hielt, es brachte den Chor der raunenden Stimmen im Hintergrund meines Bewusstseins nicht zum Schweigen.
Die Straße wand sich in Serpentinen den Berg hinauf. Linker Hand ging es steil in die Höhe, rechter Hand ebenso steil hinunter. Kein vernünftiger Baumeister wäre so vermessen gewesen, dem Berg seinen Willen derart aufzwingen zu wollen. Die meisten Handelswege folgten den Gegebenheiten des Geländes und verliefen entlang der einfachsten Trasse. Dieser Weg jedoch eroberte unerschrocken die abweisendeste Felswand und brachte uns so schnell immer weiter hinauf. Als es dämmerte, waren wir jedoch ein erhebliches Stück hinter die anderen zurückgefallen. Nachtauge lief voraus und kehrte mit der Nachricht zurück, man hätte einen geeigneten Lagerplatz gefunden und wäre nun dabei, die Jurte aufzubauen. Der böig auffrischende Abendwind war eisig. Ich freute mich auf das warme Lager und bat Krähe, sich zu beeilen.
»Beeilen?«, fragte sie. »Du bist derjenige, der nicht von der Stelle kommt. Heb die Füße!«
Die letzte Etappe eines Weges erscheint immer am längsten. Diese Binsenweisheit hatte ich oft genug von den Soldaten in Bocksburg gehört. Und richtig, mir kam es vor, als müsste ich die Füße durch kalten erstarrten Sirup ziehen, so viel Kraft erforderte jeder Schritt. Ich glaube, ich blieb in Abständen immer wieder stehen, denn verschwommen kann ich mich daran erinnern, dass Krähe mich am Arm zog und mich aufforderte, endlich weiterzugehen. Selbst als wir einen Felsvorsprung passierten und die erleuchtete Jurte vor uns erschien, vermochte ich mich nicht zu größerer Eile anzutreiben. Wie in Fieberfantasien rückte die Jurte zwar bis zum Greifen nahe an mich heran, entschwand dann aber wieder in unerreichbare Ferne. Ich stapfte weiter. Von überall her drang leises Geflüster. Meine Augen mussten gegen die Dunkelheit der Nacht und gegen den schneidenden Wind ankämpfen. Um uns herum tat sich ein lebhaftes Menschengewimmel auf und ich sah lachende Mädchen mit Körben buntgefärbter Wolle auf ihren Packeseln. Ich drehte mich nach einem Schellenhändler um. Er trug ein hohes Gestell auf den Schultern, woran bei jedem seiner Schritte Dutzende Messingglocken aller Größen und Klangfärbungen bimmelten, klingelten und läuteten. Ich zupfte Krähe am Arm, sie solle doch stehen bleiben und sich das ansehen, aber sie umfasste nur mit eisernem Griff meine Hand und hastete weiter. Ein Junge kam uns mit einem Korb voll farbenfroher Gebirgsblumen entgegen und war auf dem Weg ins Dorf hinunter. Der Duft der Blumen war berauschend. Ich riss mich von Krähe los und lief ihm nach, um welche zu kaufen, für Molly und ihre Kerzen.
»Helft mir!«, rief Krähe. Ich schaute mich nach ihr um, aber sie war nicht mehr bei mir, und auch in der Menge war nichts mehr von ihr zu sehen. Als ich den Blick wieder nach vorn richtete, sah ich, dass der Blumenjunge sich immer weiter entfernte. »Warte!« Ich vergaß Krähe und eilte ihm hinterher.
»Er läuft weg!« Krähes Stimme klang nun verzweifelt.
Nachtauge sprang mich plötzlich von hinten an und warf mich vornüber in den Schnee, der mit einer dünnen Schicht die Straße bedeckte. Trotz der Fäustlinge schürfte ich mir die Handflächen auf, und ein brennender Schmerz fuhr in mein linkes Knie. »Tölpel!«, knurrte ich ihn an und wollte aufstehen, doch er packte mich bei einem Knöchel und warf mich erneut zu
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