Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
hochzuhalten. Burrich griff erneut an, und ich begegnete ihm mit einer schwachen Parade, die er leicht überwand. Einen, zwei Schläge musste ich einstecken, nicht hart, aber trotzdem spürbar. »Und du bist tot«, sagte er, trat zurück, stützte sich auf seine Axt und schnaufte. Ich ließ meinen Axtkopf dumpf auf den Boden prallen. Es war sinnlos.
Veritas in meinem Kopf verhielt sich sehr still. Ich schaute zu ihm hin, wo er saß und durch das Fenster übers Meer zum Horizont starrte. Die Morgenhelligkeit zeigte gnadenlos die Falten in seinem Gesicht und das Grau in seinem Haar, und seine in sich zusammengesunkene Haltung spiegelte genau wider, wie ich mich fühlte. Ich schloss meine Augen für einen Moment, zu müde, um mich zu rühren oder etwas zu sagen. Und plötzlich waren wir eins. Ich blickte zum Horizont unserer Zukunft. Wir waren ein Land, belagert von einem erbarmungslosen Feind, der nur über uns herfiel, um unser Volk zu verstümmeln und zu töten. Das war das einzige Bestreben der Roten Korsaren. Sie brauchten keine Felder zu Bestellen, keine Familien zu beschützen, kein Vieh zu hüten - nichts lenkte sie von ihrer Zerstörungslust ab. Wir hingegen waren von den Anforderungen des täglichen Lebens in Anspruch genommen und mussten gleichzeitig Maßnahmen treffen, uns vor ihren Überfällen zu schützen. Für die Roten Korsaren waren ihre Raubzüge das tägliche Leben. Mehr als dieser Zielstrebigkeit bedurfte es nicht, um uns in die Knie zu zwingen. Wir waren keine Kämpfer, seit Generationen nicht mehr. Wir dachten nicht wie Kämpfer. Sogar jene von uns, die als Soldaten in der Armee dienten, denn sie waren ausgebildet, gegen einen berechenbaren Feind zu Felde zu ziehen. Wie sollten wir uns jedoch gegen eine Horde von Wahnsinnigen behaupten? Was stand uns an Waffen zur Verfügung? Ich schaute mich um und sah mich. Mich als Veritas.
Ein Mann, aufgerieben zwischen der Verteidigung seines Volkes und dem Bemühen, nicht der süchtig machenden Ekstase der Gabe zu erliegen. Ein Mann, der versuchte, uns aus der Schrecklähmung zu reißen und zur Gegenwehr anzuspornen. Ein Mann, der den Blick in die Ferne gerichtet hatte, während wir in den Räumen unter ihm jammerten und intrigierten und zankten. Es war alles sinnlos. Wir waren zum Untergang verurteilt.
Eine Flut der Verzweiflung drohte mich in die Tiefe zu ziehen. Doch plötzlich, im Mittelpunkt des tosenden Strudels, fand ich einen Platz, an dem ich stehen konnte. Einen Platz, von dem aus betrachtet das Ganze einfach nur komisch war. Furchtbar komisch. Vier kleine Kriegsschiffe, die noch nicht einmal ganz fertig waren und keine erfahrenen Mannschaften hatten. Dann die Wachtürme und Signalfeuer, um die unfähigen Verteidiger zur Schlacht zu rufen. Burrich mit seiner Axt und ich halbnackt in der Kälte. Veritas, der aus dem Fenster starrte, während ein Stockwerk tiefer sein Bruder Edel ihrer beider Vater mit Drogen vergiftete. Wahrscheinlich in der Hoffnung, Listenreichs Geist zu verwirren und dann Erbe dieses ganzen Schlamassels zu werden. Es war alles so absurd. Und so absolut undenkbar, es alles aufzugeben. Ich konnte das Lachen, das plötzlich aus mir herausbrach, einfach nicht zurückhalten. Ich stützte mich auf meine Axt und lachte, als wäre die Welt der größte Spaß, den ich je erlebt hatte, während Burrich und Veritas mich anstarrten. Der Hauch eines verständnisvollen Lächelns zog über Veritas’ Mundwinkel; ein Licht in seinen Augen war Abglanz meines verrückten Gefühlsausbruchs.
»Junge? Alles in Ordnung?«, fragte mich Burrich.
»Mir geht es gut, mir geht es ausgezeichnet«, erklärte ich beiden, als die Flutwellen meines Gelächters verebbten.
Ich richtete mich auf, ich schüttelte den Kopf, und ich schwöre, ich konnte spüren, wie mein Gehirn sich den Grenzen der Vernunft fügte. »Veritas«, sagte ich und nahm sein Bewusstsein in mich auf. Es war leicht, es war immer leicht gewesen, doch zuvor hatte ich geglaubt, dabei etwas zu verlieren. Wir verschmolzen nicht zu einer Persönlichkeit, eher konnte man es mit aufgestapelten Schüsseln in einem Schrank vergleichen. Er war genauso bequem zu tragen, wie ein fachmännisch gepackter Rucksack. Ich atmete tief ein und hob die Axt. »Nächste Runde«, sagte ich zu Burrich.
Als er auf mich eindrang, befahl ich mir, ihn nicht mehr als Burrich zu sehen. Er war ein Fremder mit einer Axt, der gekommen war, um Veritas zu töten, und bevor ich mich zurückhalten konnte, hatte ich ihn zu
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